Die Freiheit nehm‘ ich mir

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Wer kennt ihn nicht, den Slogan aus dem Jahre 1992, der vor allem die weibliche Kundschaft zu – mehr – spontanen Käufen mit einer Visa Card animieren wollte und damit vermutlich voll den Zeitgeist traf? Kaum jemand dürfte damals geahnt haben, dass diese, von einer Kampagne lancierte Maxime schon bald das Verhalten, die Mentalität und das Lebensgefühl der Millennials und ihrer nachgeborenen Generationen prägen und charakterisieren sollte. Nicht von ungefähr setzte sich parallel dazu der Neoliberalismus mit einer ähnlichen Vorstellung von 'Freiheit' in der Wirtschaftspolitik des Westens durch.

Bei näherer Betrachtung verdichtet sich der Eindruck, dass krass etwas schiefgelaufen sein muss, wenn dieses Verständnis von 'Freiheit' seit dreissig Jahren dominiert. Denn die Freiheiten, die ich mir einfach mal nehme, haben oft einen – mitunter hohen – Preis, den andere bezahlen müssen… Wie konnte sich diese Ungerechtigkeit so ausbreiten und als Normalität etablieren? Und kann man dagegen überhaupt noch etwas unternehmen?

Die Bedeutung des Begriffs 'Freiheit' hat sich im Laufe der Geschichte gewandelt. Durchgängig bezeichnet er das Gegenteil von 'Unfreiheit' als Ergebnis von Unterwerfung, Gefangenschaft, Leibeigenschaft, Sklaverei und sonstigen Formen von Unterdrückung, Zwang, Fremdbestimmung, Abhängigkeit und Ausbeutung. Unser heutiges Verständnis von 'Freiheit' als 'ein durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) geschütztes und durch die Verfassungen unserer demokratischen Staaten garantiertes, unverletzliches Menschenrecht' hat sich erst in den letzten 300 Jahren herausgebildet. Das 'Recht auf Freiheit' hat die Situation vieler Menschen verbessert, was aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass es trotz ihrer offiziellen Abschaffung – oft im Verborgenen und in modernen Varianten – weiterhin alle genannten Formen von 'Unfreiheit' gibt, sogar Sklaverei in unseren demokratisch verfassten Rechtsstaaten. In Diktaturen wie China oder Russland sind Menschenrechte, wie wir sie kennen, leider gar nicht vorgesehen.

Möglich wurden die Freiheitsrechte durch einen Sinnbildungsstil, den wir 'Subjektivität' nennen und der sich zwischen dem XVII. und dem XIX. Jahrhundert herausgebildet hat. In diesem Prozess löste sich der Mensch aus der Vorstellung, Teil eines göttlichen Plans zu sein, und begann damit, sich als 'Subjekt seiner Handlungen' zu begreifen. Erfindungen, Entdeckungen und Naturkatastrophen hatten die Autorität und das Weltbild der christlichen Kirchen zerfallen lassen. Und nicht zuletzt auch innere Widersprüche: so ist der angeblich 'freie Wille des Menschen' logisch nicht vereinbar mit der 'Allwissenheit Gottes'. Nach den Ideen der Philosophen der Aufklärung – und vor allem nach Immanuel Kant – sollte sich der Mensch durch den Gebrauch seines Verstandes aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien. 'Vernunft' war das neue Prinzip, das künftig alle menschlichen Handlungen leiten und in die 'Freiheit' führen sollte. 'Vernünftige Handlungen' würden der moralischen Werte des Christentums nicht mehr bedürfen. Tatsächlich wurde Moral dann ja auch in den nachrevolutionären Gesellschaften zur 'Privatsache' erklärt – und damit entmachtet.

Spätestens der Holocaust zeigte uns die Schattenseite der Vernunft auf, einer instrumentellen Vernunft, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sie in der Dialektik der Aufklärung (1944) nannten, die sogar für eine Begründung der industriellen Vernichtung von sechs Millionen Menschen missbraucht werden konnte. Wir müssen folglich wachsam bleiben, um einen solchen Missbrauch künftig zu verhindern, denn bis heute haben wir keinen besseren Ersatz für moralische bzw. ethische Werte gefunden, die schon im XVIII. Jahrhundert in unerträglicher Weise die gesellschaftliche und – vor allem – die wirtschaftliche Entwicklung blockierten: es war zu aufwendig – und oft unmöglich – geworden, jederzeit zu überprüfen, ob – etwa – das Geld, das ein Pariser Banker einem Hamburger Kaufmann lieh, ausschliesslich für moralisch gute Zwecke verwendet wurde. Was Bertolt Brecht später mit dem Satz 'Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral' über die armen Bevölkerungsschichten auf den Punkt bringen wollte, nämlich dass man sich Moral leisten können müsse, traf also in einem übertragenen Sinn längst genauso auf die Bourgeoisie zu, der er selbst entstammte und gegen die er zeitlebens anschrieb.

Als 'Freiheit' nach der Französischen Revolution im Gesetz verankert wurde, war schnell klar, dass dieses Recht paradoxerweise von Anfang an partiell eingeschränkt werden musste, um es generell aufrechterhalten zu können: 'individuelle Freiheit' endet dort, wo sie die Freiheitsrechte anderer verletzt. Die Durchsetzung dieses von Menschen gemachten, 'positiven' Rechts erfolgt seitdem über Kontrollen – und Sanktionen bei Zuwiderhandlung. Die Rechte konstituieren also die Pflichten gleich mit, und der Umgang mit den Pflichten offenbart das zugrundeliegende Verständnis von 'Freiheit'

Entweder die 'Freiheit innerhalb des Systems', durch grösstmögliche Anpassung an Gesetze, Regeln und – allgemein – die Erwartungen anderer: das ist in Diktaturen die einzig zulässige Verhaltensweise, aber auch in Rechtsstaaten die überwiegende Praxis, abgesehen von den gesetzlich vorgesehenen Formen des Protests. Solange ich mache, was von mir erwartet wird, vermeide ich Sanktionen. So kann ich – etwa – vor mir selbst den Eindruck aufrechterhalten, die positive Beantwortung der 'Frage' meines Arbeitgebers, ob ich ausnahmsweise am kommenden Samstag einen Referenten vom Flughafen abholen und zum Tagungsort bringen könne, beruhe auf meiner eigenen und freien Entscheidung. Eine 'Anweisung' stellt dagegen die Verhältnisse klar, was bei – den deshalb humaneren – höflichen 'Fragen' nur und erst dann geschieht, wenn ich – mehrfach – nicht so reagiere, wie es von mir erwartet wird: dann könnte mich die Verwechslung des 'Erlebnisses einer freien Entscheidung' mit einer tatsächlich freien Entscheidung schnell den Job kosten.

Oder die 'Freiheit vom System', durch Missachtung oder Ablehnung geltender Gesetze, Regeln und – allgemein – der Erwartungen anderer, als Ausdruck von Widerstand, meistens aber bloss zum eigenen Vorteil: das kann natürlich nur gelingen, wenn sich die Kontrollen und die Sanktionen umgehen lassen. Dabei ist meistens viel kriminelle Energie im Spiel (Korruption, Ausnutzung von Gesetzeslücken etc.) und/oder eine extreme Form von Egoismus, der alles untergeordnet wird… Risikoabwägungen entscheiden dann fallweise darüber, welche Freiheiten ich mir tatsächlich nehme. Der 'eigene Vorteil' beschränkt sich – bei Egomanen und Soziopathen – heute häufig darauf, etwas nur deshalb zu tun, weil man es kannohne Rücksicht auf die Verluste und die Nachteile anderer.

Damit ist der Rahmen abgesteckt, in dem ich Beispiele anführen möchte, die Ausdruck und Ergebnis einer grossflächigen Verschiebung von einem mehrheitlich angepassten, regelkonformen Verhalten ('Freiheit innerhalb des Systems') zu einer um sich greifenden Rücksichtslosigkeit ('Freiheit vom System') sind. Sie zu identifizieren ist einfacher als ihnen konkrete Motive zuzuordnen, die diese Entwicklung antreiben. Trotzdem werde ich am Ende versuchen, Ursachen zu benennen, denen wir in den letzten Jahrzehnten vermutlich die drastische Zunahme von Egoismus und die rasante Abnahme der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und für die eigenen Taten zu haften, verdanken.

Als erstes fallen mir natürlich die Verwerfungen in der Wirtschaft ein, die durch die neoliberale Deregulierungswut entfesselt wurden. Verdiente der bestbezahlte Mitarbeiter eines Unternehmens noch vor wenigen Jahrzehnten maximal das 20fache des tiefsten Lohns, so hat sich in vielen Konzernen die Lohnschere inzwischen obszön weit geöffnet. In der Schweiz verdiente 2021 gemäss einer Studie der Gewerkschaft Unia Severin Schwan, der damalige CEO des Pharma-Riesen Roche, am meisten: 307 Mal soviel wie die Mitarbeiter mit den niedrigsten Löhnen im Unternehmen. Selbst im Schnitt war in der Schweiz das Verhältnis für den gesellschaftlichen Zusammenhalt noch ungesund: 1:141, mit steigender Tendenz. Joachim Jahnke nennt für Deutschland 2022 folgende Zahlen: «Der Durchschnitt der 10 Bestbezahlten beträgt 9,6 Mio. EUR. Das ist das 240-Fache des Bruttolohneinkommens eines deutschen Arbeitnehmers». Weil in den Chefetagen legal riesige Raubzüge stattfinden, etwa durch unverhältnismässig hohe Gehälter, Boni und Aktienoptionen, die in keiner Bilanz auftauchen und für die auch keine Rückstellungen vorgenommen werden, können die am schlechtesten bezahlten Mitarbeiter häufig nicht einmal von ihrem Lohn leben… und die Misere setzt sich auf noch brutalere Weise in der Ausbeutung auf ausgelagerten Leiharbeitsstellen und in einer zwangsläufigen Altersarmut fort. Die soziale Marktwirtschaft ist schon lange tot, auch wenn sich deutsche Politiker gerne lächerlich machen, indem sie immer noch das Gegenteil behaupten. Noch schlimmer trieben es die Banker mit ihren dubiosen Finanzprodukten und ihrer verantwortungslosen Zockerei. Sie nahmen sich einfach mal die Freiheit, ganze Banken zu zerstören und Milliarden, natürlich nicht ihre eigenen, zu vernichten, ohne jemals dafür zu haften.

Die Politiker nahmen sich – gerne auch zur Finanzierung von Wahlgeschenken und zur Sicherung ihrer Wiederwahl – die Freiheit, Schuldenberge anzuhäufen, die nicht einmal mehr die künftigen Generationen abtragen können. Deshalb steuern wir auf einen Crash des weltweiten Finanzsystems zu, an dessen Ende vermutlich 95% der Schulden, aber auch 95% der Vermögen verschwunden sein werden. Dass ein solcher Crash für den ärmeren Teil der Menschen viel Leid und Elend nach sich ziehen wird, dafür muss dann eine schlichte Entschuldigung reichen, wie sie gerade der Präsident der Crédit Suisse – nach dem Aus der Bank infolge von Missmanagement und massloser Gier – an der letzten Generalversammlung vortrug: „Ich möchte mich entschuldigen, für alles, was passiert ist.“ Keine Übernahme von Verantwortung, keine persönliche Haftung für die Schäden… Man ist dann einfach mal weg, am liebsten noch mit einem goldenen Fallschirm…

Die EZB nahm sich unter der Leitung von Mario Draghi und Christine Lagarde die Freiheit, über Jahre mit monatlichen, zum Teil hohen zweistelligen Milliardenbeträgen illegale Staatenfinanzierung zu betreiben und die Staatsverschuldung vor allem jener Staaten wie Italien oder Griechenland in unverantwortliche Höhen zu treiben, die nur dadurch einen Staatsbankrott verschleppen konnten… wofür jeder Unternehmer ins Gefängnis ginge. Natürlich wurde die EZB von den Politikern dazu gedrängt, so zu handeln, doch nun ist sie mit ihrem Latein am Ende, verfügt über keine Instrumente mehr, um ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen, die Inflation unter Kontrolle zu bringen und zu halten. Auch hier gilt nicht das Verursacher-Prinzip: keine Konsequenzen, keine Haftung und natürlich keine Schuldeingeständnisse.

Ein Teil der Gelder aus den ständigen Verkäufen von Staatsanleihen an die EZB wurde in Form von Subventionen an die Wirtschaft weitergereicht, die es vortrefflich verstand, Politiker mit der Androhung einer Verlagerung der Produktion ins Ausland und einer Vernichtung von Arbeitsplätzen zu erpressen. Bei den einfachen Arbeitern und Angestellten kamen diese Gelder nie an. Es reicht, wenn diese sich mit ihren Steuern, und sei es auch nur mit der Mehrwertsteuer, am Abbau des Schuldenbergs beteiligen.

Die Wirtschaftslenker und ihre Topmanager haben sich weiterer Vergehen und Verbrechen schuldig gemacht, von denen ich hier nur einige herausgreifen kann. So wurden aus Profitgier unverantwortliche Klumpenrisiken geschaffen, etwa die wirtschaftlichen Abhängigkeiten von Russland und China. Das Missbrauchspotential ist inzwischen so angewachsen, dass nicht nur die Wirtschaft selbst, sondern ganze Staaten der aufstrebenden Weltmacht China völlig ausgeliefert sind…

Obwohl seit 50 Jahren vor den 'Grenzen des Wachstums' gewarnt wird, hat die Wirtschaft – wie die Politik – keine entsprechenden Weichenstellungen vorgenommen. Erforderliche Massnahmen zum Klimaschutz und einem verantwortungsvollen Umgang mit den Ressourcen wurden ignoriert, gesetzliche Auflagen mit krimineller Energie umgangen… alles auf Kosten nachfolgender Generationen. Unvergessen ist die Dreistigkeit, die der Abgas-Skandal bei VW aufdeckte. Und in Andalusien wurden noch in der jüngeren Vergangenheit Plantagen mit Millionen Olivenbäumen angelegt, deren Betreiber sich seitdem die Freiheit nehmen, das komplette Grundwasser aufzubrauchen und der Bevölkerung dieser regenarmen Region zu rauben…

Auch die Macher von Industrie 4.0 nehmen sich jede Menge Freiheiten heraus. Sie sammeln ohne Erlaubnis möglichst viele Daten über uns, die sie dann für ihre eigenen Zwecke missbrauchen, schaffen grösstmögliche Abhängigkeiten, halten Menschen in Echokammern gefangen und zerstören damit die Demokratien. Sie erschaffen mit ihren Technologien ein Universum der Manipulation, verwischen die Grenzen von Wahrheit und Lüge, Original und Fälschung, Freund und Feind. Und im Bereich der Künstlichen Intelligenz treiben sie mit ihren Algorithmen eine Entwicklung voran, mit der sie die Menschheit – und offenbar auch schon sich selbst – komplett überfordern… Unverantwortlich und unzeitgemäss ist auch der extrem hohe Energieverbrauch der Kryptowährungen auf der Basis der Blockchain-Technologie. Alleine Bitcoin soll jährlich dreimal soviel Strom verbrauchen wie die Schweiz.

Aber auch wir alle, die wir keine Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind, nehmen uns ständig Freiheiten, die vor allem eines sind: rücksichtslos, egoistisch – und damit oft schädlich für andere. Weil wir es können. Oder der Meinung sind, es uns erlauben zu können. Wir verprassen Ressourcen, kaufen immer mehr und immer grössere SUVs, wollen keine Tempolimits, vergrössern unseren ökologischen Fussabdruck faktisch immer mehr, so dass die CO2-Emissionen steigen und steigen. Nun schwenken wir langsam um auf eine 'Anpassung an den Klimawandel', weil wir – nicht zuletzt wegen unseres eigenen Verhaltens – nicht mehr an einen wirksamen 'Klimaschutz' glauben. Klimaschützer wollen durchaus noch die Welt zu retten, nehmen sich aber in ihrer Verzweiflung ebenfalls alle möglichen (und unmöglichen) Freiheiten, um ihre Überzeugungen und Interessen durchzusetzen.

Besonders krass sind Amokläufe, Angriffe auf Polizisten, Feuerwehrleute, Rettungssanitäter, Ärzte, Lehrer oder Politiker, aber auch Mobbing und sexuelle Übergriffe. Sie zeigen deutlich, dass die 'Verletzung der Rechte anderer' nicht mehr daran hindert, seine 'eigenen Freiheiten' hemmungslos auszuleben. So auch bei der Besprühung von Fassaden, Anfällen von Vandalismus im Kontext von Fussballspielen und Demonstrationen oder der massiv angestiegenen Sprengung von Bankautomaten. Die drastischen Überschreitungen jeweils zulässiger Höchstgeschwindigkeiten, die zum Teil lebensgefährlichen Nötigungen auf Autobahnen und die Lärmbelästigung durch sogenannte 'Poser' sind weitere Beispiele, die jeder kennt.

Darüber hinaus schliessen sich Menschen zu Gruppen zusammen, die sich dann ihrerseits die Freiheit nehmen, der Gesellschaft völlig undemokratisch und respektlos ihre partikularen Ansichten aufzwingen zu wollen. Sie verändern und zerstören kompromisslos aus purem Eigeninteresse die Sprache, ein Allgemeingut, das zum Glück in seiner Geschichte schon mehr als einen dergestalt brutalen Angriff überstanden hat. Die ganz Ausgeschlafenen nehmen sich sogar die Freiheit, historische Zeugnisse (Dokumente, Monumente etc.) nach eigenem Gutdünken zu zerstören, zu verändern oder zu verbieten, ohne die Folgen und die Dimension ihrer Anmassung und Selbstüberschätzung auch nur ansatzweise begreifen zu können. Sie sind selbstherrliche Verfechter einer Cancel Culture und reissen meinungsdiktatorisch die Deutungshoheit darüber an sich, wo genau die angebliche rote Linie zwischen kulturellem Austausch und kultureller Aneignung verläuft. In ihrer ideologischen Verblendung bemerken sie nicht einmal, dass sie nur eines bewirken, das sie nicht einmal beabsichtigen: eine tiefe Spaltung der Gesellschaft und Hass ohne Ende.

Bildung macht – wie so oft – den Unterschied… Und daran mangelt es inzwischen immer mehr. 'Respekt' und 'Bescheidenheit' sind Tugenden, die in einem aufwendigen Prozess erlernt werden müssen. Warum sie nicht mehr überall anzutreffen sind, vermag ich nicht zu sagen. Das müssten Eltern und Lehrer einmal plausibel erklären. Fehlt dafür die Zeit? Sind das keine Lernziele mehr? Offenbar reicht die Zeit nicht einmal mehr aus, allen Schülern das so wichtige Lesen (und Schreiben) beizubringen. Wenn es aber schon daran scheitert, wie sollen dann so anspruchsvolle Werte wie Respekt, Bescheidenheit, Rechte, Pflichten etc. gelehrt und erlernt werden?

Stattdessen schrumpft die Welt in der Wahrnehmung auf minimale Ausschnitte zusammen, die digitale Geräte Tag für Tag auf Milliarden Selfies festhalten. Darauf sieht man vor allem sich selbst. Der Ausschnitt wird, so mein Eindruck, gar nicht mehr als Teil eines Ganzen wahrgenommen: er ist das Ganze. Das Selfie, das natürlich sofort in den sozialen Medien verbreitet werden muss, um zum Resonanzboden vieler Likes zu werden, bietet die ideale Möglichkeit, sich mit Bedeutsamkeit aufzuladen und die tatsächlichen Verhältnisse zu verzerren.

So wird man zum 'Influencer', hält sich schon als Teenager für so wichtig, dass man andere an seinem umfangreichen Wissen und seiner prallen Lebenserfahrung teilhaben lassen muss. Wer die sogenannten 'Follower' sind, die mit ihren Likes Bedeutsamkeit generieren, ist in der ICH-ICH-ICH-Perspektive schon weniger wichtig. Das Differenzieren fällt ja offenbar auch schwer, wenn man Kontakte in den sozialen Medien, die man gar nicht – näher – kennt, schon als 'Freunde' bezeichnet. Und wenn die Anzahl der Personen, die mir in den sozialen Medien folgen, steigt, wie soll es mir da noch gelingen, bescheiden zu bleiben und den Bodenkontakt nicht zu verlieren? Vor allem, wenn dann auch noch Einladungen in Talkshows und Quiz-Sendungen winken…

In den 80er Jahren, als solche 'Persönlichkeiten' noch selten anzutreffen waren, bezeichnete mein Freund Walter sie treffend als 'sich aufspreizende Subjekte'. Damals hat man ihre Egozentrik, die sich ganz logisch in einem ausgeprägten Egoismus fortsetzte, noch belächelt. Die Erfolgsgeschichte der Jeans, des ersten Massenproduktes, das – man kann es immer noch nicht fassen – als 'Ausdruck von Individualität' vermarktet wurde, war ein erstes Beispiel dafür, wie gut man Gewinne mit Menschen machen kann, wenn man sie als 'einzigartige Individuen' abholt. Das erzeugt das Selbstbewusstsein, mit dem man sich dann seine Freiheiten nimmt, etwa teure Jeans zu kaufen und zu tragen, in die so grosse Löcher eingearbeitet wurden, dass man sie früher entsorgt, aber auf keinen Fall mehr getragen hätte. Ein Hohn in den Augen derjenigen, die sich kaum Kleidung leisten können. Aber solche Menschen kommen in den Selfies natürlich nicht vor, die kaputten Hosen schon. Die Blüten des schlechten Geschmacks, die durch Modedesigner in den Stand von Accessoires erhoben werden, die man unbedingt haben muss, verblüffen immer wieder, mehr noch, dass sie tatsächlich gekauft und getragen werden.

Daran wird auch deutlich, dass viele Menschen in ihren Entscheidungen doch nicht so frei sind, wie sie denken. Dass sie sich vielmehr von anderen einflüstern lassen, welche Freiheiten sie sich nehmen sollen. Das kann dann sogar dazu führen, dass man – als 'Early Adopter' – immer mal wieder vor einem Apple-Shop übernachtet. Je geringer das Bildungsniveau, desto einfacher gelingt die Manipulation in allen Bereichen des Lebens. Wen wundert da noch der Riesenerfolg der Fack ju Göhte-Filme, die bei allem Spass suggerieren, dass man auch ohne – Investition in – Bildung alles erreichen kann… Der deutsche Parfüm-Influencer Jeremy Fragrance ist ein sehr guter Beleg dafür… Man sollte nur kein Interview mit ihm anschauen, wenn man nicht miterleben möchte, wie unerträglich – und unendlich peinlich – ein extrem niedriges Bildungsniveau sein kann bei einem, der auf TikTok 6,6 Millionen Follower hinter sich weiss.

Zugegeben, das sind Extrembeispiele, die zwar nicht repräsentativ, aber immerhin inzwischen doch so zahlreich sind, dass sich ein Trend ablesen lässt. Was passiert, wenn digitale Medien auf wenig Bildung treffen, habe ich bereits in einem früheren Beitrag dargelegt. Da war mir aber noch nicht so klar, wie sehr sich dieser Zusammenhang auch auf die Entstehung immer hemmungsloserer Egozentriker, Egoisten und Egomanen auswirkt, die sich ganz einfach ihre Freiheiten nehmen. Im früheren Beitrag ging es auch schon um den Verlust des Gemeinsinns und des Gemeinwohls, allerdings durch die Auflösung eines gesellschaftlich verbindlichen Wahrheitsbegriffs und den langfristig damit verbundenen Zerfall unserer Gesellschaften.

Die Frage nach Auswegen ist schwierig zu beantworten, wenn der Stellenwert von Bildung sich nicht mehr in der Erziehung und in der Bildungspolitik spiegelt und die Ansicht kursiert, man müsse überhaupt nichts mehr wissen, man könne ja alles googeln. Und wenn der grassierende Individualismus und Egoismus auch eine 'Nebenwirkung' unserer heutigen Form des Wirtschaftens in einer globalisierten und digitalisierten Welt ist, der es immer einfacher gelingt, Menschen zu manipulieren, um daraus Profit zu schlagen.

Erfahrungsgemäss sind es vor allem grosse – persönliche oder gesellschaftliche – Krisen und Zusammenbrüche, in denen Menschen ihren Gemeinsinn (wieder)entdecken: wenn sie plötzlich auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Die vielen Individualisten, die derzeit ihre persönliche 'Freiheit' im Sinne einer totalen Unabhängigkeit von anderen Menschen und von der Gesellschaft abfeiern und ausleben, sind momentan meilenweit davon entfernt. Sie nehmen sich die Freiheit, sämtliche Rechte für sich zu beanspruchen, während sie die Pflichten und die Verantwortung gerne auf andere abschieben. Besonders wichtig sind ihnen die eigene Work-Life-Balance, die ständige Selbstvermessung und Selbstoptimierung sowie die Befreiung aus möglichst vielen Zwängen. Die digitalen Nomaden machen es vor, die immer stärkere Verlagerung der Arbeitswelt ins Home Office ist eine logische Folge. Dialogfähigkeit kann so nicht entstehen, weshalb immer häufiger 'Gespräche' zu beobachten sind, die tatsächlich bloss aus einer Abfolge aneinander vorbeilaufender Monologe bestehen. So lösen wir aber nicht die Probleme der Gegenwart… sondern werden wir zwangsläufig Zeugen einer Gesellschaft, die sich langsam selbst abschafft. Vorerst können wir wohl nur – wo nötig drastisch – die Kontrollen verschärfen und die Sanktionen erhöhen, um die kriminelle Energie und die Auswüchse egoistischen Verhaltens einzudämmen…

Als Ergänzung und zur Vertiefung der Thematik empfehle ich unbedingt die Bücher 'Ich und die anderen' (2018) und 'Die Qualen des Narzissmus'  (2022) der jüdischen Philosophin und Publizistin Isolde Charim aus Wien sowie ein Gespräch mit ihr in der Sternstunde Philosophie vom 15. Januar 2023. Darin beschreibt sie im Rückgriff auf psychologische Theorien, vor allem Sigmund Freud, die letzten 30 Jahre als eine Verschiebung von der Herrschaft eines Über-Ichs (Väter, Vorbilder etc.) hin zur Herrschaft eines Ich-Ideals, dem wir hinterherlaufen, ohne es je erreichen zu können, und einer Ideologie des Narzissmus als antigesellschaftliches Prinzip.

Veröffentlicht von Armin Biermann vor 1 Jahr, 21.4.2023

Abgelegt in: Allgemein

3 Antworten zu “Die Freiheit nehm‘ ich mir”

  1. 27. April 2023 at 18:02

    Lieber Armin,
    Du hast wieder mal eine scharfsinnige Analyse geliefert eines Trends, der auch mir zu schaffen macht.

  2. 24. April 2023 at 23:56

    Exzellenter Beitrag! Harter Stoff – und folglich auch schwer zu verdauen. Macht schwer nachdenklich – mich zumindest…

  3. Bernd Zielinski
    24. April 2023 at 11:27

    Hallo Armin, der Beitrag spricht mir aus dem Herzen und schließt nahtlos an unsere Gespräche bei Eurem letzten Besuch an. Danke.

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