Apocalypse Now

Geschätzte Lesezeit: Etwa 11 Minuten (2'206 Worte)

Als Francis Ford Coppolas Meisterwerk über den Wahnsinn des Krieges 1979 in die Kinos kam, löste es unter uns Studenten kontroverse Diskussionen aus, wie ich sie selten erlebt habe. Einige sahen darin eine inakzeptable Verherrlichung von Gewalt, andere hielten dem Regisseur vor, Gewalt durch schöne, mit – klassischer – Musik unterlegte Bilder zu ästhetisieren – und auf diese Weise sträflich zu verharmlosen. Eine dritte Gruppe teilte meine Auffassung, Coppola sei ein genialer Antikriegsfilm gelungen, der über solche Vorwürfe erhaben sei.

An Apocalypse Now scheiden sich vermutlich heute noch die Geister. Wer diese schwere Kost bis zum Ende angeschaut und das barbarische Gemetzel ausgehalten hat, wird die Bilder wohl nie wieder vergessen und begriffen haben, dass Krieg um alles in der Welt verhindert bzw. beendet werden muss. Denn die Realität ist unendlich viel grausamer als eine filmische Annäherung – zur Abschreckung – je darzustellen vermag. Leider vergeht bis heute kein einziger Tag, an dem nicht irgendwo auf der Welt kriegerische Auseinandersetzungen und unerträgliche Rückfälle in die Barbarei stattfinden.

Coppolas Film, der auf die Gräuel des Vietnamkrieges reagierte, hat – zum Entsetzen vieler Menschen – nichts von seiner Aktualität eingebüsst. Der Wahnsinn ist zurück, und 'Apocalypse Now' bringt gerade ziemlich treffend die Stimmung und die Befürchtungen auf den Begriff, die viel zu viele Ereignisse und Entwicklungen der letzten Zeit heraufbeschworen haben. Selbst unerschütterliche Optimisten gelangen an ihre Grenzen…

Am 24. Februar wurde ein weiterer schrecklicher Krieg begonnen, in der Ukraine, aber eigentlich gegen den gesamten Westen mit seinen freiheitlich-demokratischen Werten. Für den russischen Präsidenten Putin gibt es offenbar kein Tabu mehr bei der Wahl der Mittel, um die ihm so verhasste Westliche Welt zu bekämpfen und am liebsten zu vernichten, die ihm niemals Augenhöhe zugestanden und sein Land sogar als 'Regionalmacht' verspottet hat.

Seit Wochen gerät nun auch immer wieder das Gebiet Saporischschja unter Beschuss, in dem sich Europas grösstes Atomkraftwerk befindet. Ein atomarer Super-GAU in unserer unmittelbaren Nachbarschaft kann auf einmal nicht mehr ausgeschlossen werden. Darüber hinaus hat Putin bereits mehrfach den Einsatz von Atombomben angedroht. Schlimmer noch: er hat die Deutungshoheit an sich gerissen, wer wann und wo welche roten Linien überschritten hat, womit er dann vor sich und der Welt einen unausweichlichen Einsatz von Nuklearwaffen rechtfertigen wird. Ist das alles nur irres Machtkalkül eines hasserfüllten, gekränkten Diktators oder gar der kranke Plan eines angeschlagenen alten Mannes, der damit begonnen hat, sein eigenes und unser aller Ende zu orchestrieren?

Die aktuelle Lage bekommt zusehends eine apokalyptische Dimension. Wir müssen erkennen, dass der Westen Putins Treiben schlicht nichts entgegenzusetzen hat. Wir müssen hinnehmen, dass das Völkerrecht nach Belieben gebrochen wird, dass russische Soldaten die Zivilbevölkerung in der Ukraine foltern, vergewaltigen und hinrichten, bevor sie das Land Stück für Stück dem Erdboden gleichmachen. Die vielen Sanktionspakete der EU erzielen bestenfalls mittelfristig eine Wirkung, gegen die täglich begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit richten sie gar nichts aus.

Und sollte Putin irgendwann in der Ausweglosigkeit, in die er sich in völliger Selbstüberschätzung manövriert hat, tatsächlich die finale Katastrophe auslösen, stehen die westlichen Atommächte bereit, sich mit einem Zweitschlag zu Erfüllungsgehilfen seines letzten Willens zu machen…

Es ist diese Ohnmacht des Westens, die Putin auf die Spitze treibt und in vollen Zügen auskostet. Etwa bei seinem sadistischen Spiel mit den Gaslieferungen nach Europa. Zur Begründung der Vertragsbrüche werden mit ernster Miene so offensichtliche Lügen vorgetragen, dass die Verhöhnung und die Erniedrigung der westlichen Staaten grösser nicht sein könnten. Die Preise für Energie gehen ungehindert durch die kapitalistische Decke. Und weil mit einem Teil des Gases Strom erzeugt wird, sind die Preise gekoppelt und steigen gerade gemeinsam ins Unbezahlbare. Das führt zu gewaltigen Verwerfungen, die für Putin die ganze Dekadenz des Westens offenbaren, während Russland mit immer weniger Gas immer mehr Geld verdient. Die freie Welt dagegen muss auf unabsehbare Zeit auch noch die Ukraine mit Waffen und Geld unterstützen sowie Millionen Menschen humanitäre Hilfe leisten, die in oder aus ihrem Land geflüchtet sind.

Wie konnte Putin bloss soviel Macht akkumulieren, dass er die gesamte Westliche Welt nun am Nasenring durch die Manege treiben und in die Knie zwingen kann, während China und Indien zuschauen und vermutlich sogar dabei helfen, westliche Sanktionen zu umgehen? Wieso wurde ein solches Szenario nicht vorhergesehen, einer solchen Machtkonzentration kein Riegel vorgeschoben?

Dank der Vermittlung der UN (und der Türkei, die eine mehr als fragwürdige Rolle zwischen Putin und der NATO spielt) konnte zumindest die Getreideausfuhr aus der Ukraine wiederaufgenommen werden, damit der Hunger in der Welt nicht weitere dreihundert Millionen Menschen existentiell bedroht und neue Flüchtlingsbewegungen erzwingt. Ob dieses Ziel nach der monatelangen Blockade noch erreicht werden kann, ist ebenso offen wie die Frage, ob Putin diese Lieferungen zwischendurch nicht doch willkürlich wieder stoppen wird, nur um der Welt erneut seine Macht zu demonstrieren. Er hält sämtliche Fäden in der Hand… und lässt daran nicht den geringsten Zweifel aufkommen.

Die explodierenden Kosten für Heizung, Strom und Benzin treiben die Inflation in eine Höhe, wie wir sie in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben. Deren Bekämpfung wäre die eigentliche Aufgabe der Europäischen Zentralbank. Sie hätte den Leitzins viel früher viel deutlicher anheben müssen, um die Geldmenge zu reduzieren. Leider macht sie unter Draghi und Lagarde das genaue Gegenteil: sie finanziert illegal wenig kreditwürdige Staaten wie Italien oder Griechenland, aber auch viele andere, deren Staatsanleihen sie seit Jahren aufkauft und auf die sie bis vor kurzem zum Teil auch noch – gegen jeden geldpolitischen Verstand – Negativzinsen erhoben, also Zinsen gezahlt hat. Die Sparer wurden schleichend enteignet und ihrer Alterssicherung beraubt, während die Staatsschulden in den Himmel wuchsen. Ein Leitzins, der zur Bekämpfung der Inflation geeignet wäre, würde ohne gleichzeitige, in der Logik der Geldwertstabilisierung aber unsinninge Stützungsmassnahmen unmittelbar diverse Staatsbankrotte nach sich ziehen.

Die EZB ist durch ihre absurde, illegale Staatenfinanzierung längst nicht mehr handlungsfähig. Sie wird inzwischen als Institution ernsthaft in Frage gestellt. Doch was bedeutet das für uns und für den Euro? Steuern wir nun definitiv auf den Crash des Finanzsystems zu, den Experten schon länger für spätestens 2023 erwarten?

Da andere Zentralbanken, etwa die FED in New York, die Leitzinsen inzwischen deutlich erhöht haben, fliessen gerade die Milliarden der Investoren aus Europa ab, um in Ländern wie den USA deutlich höhere Zinserträge zu erzielen. Das wiederum schwächt den Euro zusätzlich, der nun perspektivisch weniger wert ist als ein Schweizer Franken oder ein US-Dollar. Der schlechtere Wechselkurs verteuert die Importe und heizt die Inflation weiter an. Es besteht die Gefahr einer Abwärtsspirale, die ausser Kontrolle gerät… Mario Draghis Ansage 'Whatever it takes' vom 26. Juli 2012 und die daraus abgeleiteten Massnahmen der EZB zum Schutz des Euro gegen Spekulanten und Zocker an den Finanzmärkten haben seitdem nicht nur ihre Wirkung vollständig eingebüssst – die Massnahmen selbst sind mittlerweile zur grössten Gefahr für den Euro aufgestiegen.

Auch die Politik kann diesen Prozess mit noch so viel Entlastungspaketen nicht mehr aufhalten. Entsprechend desaströs ist das Bild, das sie derzeit abgibt… Da braucht es nun wirklich nicht auch noch einen Christian Lindner, der auf Kosten des ärmeren Teils der Bevölkerung sein asoziales, klientelpolitisches Süppchen kocht, damit seine Partei nicht nach den nächsten Wahlen – und völlig zu Recht – in der Bedeutungslosigkeit verschwindet.

Apocalypse Now – Diesen Eindruck gewinnt man auch noch aus einer dritten Perspektive, und auch dort ist der Mensch für die Entwicklung voll verantwortlich… Der Ukraine-Krieg und die Kostenexplosion bei gleichzeitiger Geldentwertung finden in einem der heissesten Sommer und in einer der schlimmsten Dürreperioden Europas seit Beginn der Aufzeichnungen statt. Das Grundwasser geht zur Neige, die Gletscher schwinden dahin, die Flüsse und Seen führen kaum noch Wasser, Ernten werden zum Teil oder vollständig vernichtet, und die Böden sind in den letzten fünf Jahren so tief ausgetrocknet, dass die meisten Bäume nun absterben und/oder Bränden und Parasiten zum Opfer fallen. Hochs und Tiefs kommen kaum noch von der Stelle, sorgen für unerfreuliche Hitzerekorde und zahllose Brände sowie gigantische Überschwemmungen, wie derzeit in Pakistan.

So werden nicht nur – wegen Putins Kriegsstrategie – Erdöl, Gas, Kohle, Strom, Düngemittel oder Getreide knapp und teuer, sondern – aufgrund des fortschreitenden Klimawandels – auch noch Wasser, Wälder, Mais, Speiseöl, Wein und die meisten anderen Lebensmittel, also unsere Lebensgrundlagen. Und nicht zuletzt dank der EZB wird fatalerweise für viele Menschen nun auch noch das Geld knapp.

Durch den zur Normalität gewordenen, dramatischen Wassermangel drohen auf einmal landesweite Stromausfälle, weil Atomkraftwerke (vor allem in Frankreich) nicht mehr ausreichend gekühlt werden können und deshalb heruntergefahren oder gar abgeschaltet werden müssen (soviel zum Thema 'Sicherheit der Kernenergie'). Ausserdem können fossile Brennstoffe nicht mehr in ausreichendem Masse auf Wasserstrassen wie dem Rhein zu Kraftwerken transportiert werden, wofür es ebenfalls keinen ausgearbeiteten Plan B gibt.

Beschleunigt durch Putins Krieg finden wir uns in einer Situation wieder, vor der uns der Club of Rome schon seit 1972 (!) eindringlich warnt. Auch renommierte Klimaforscher wie Mojib Latif sagen sie seit langem vorher. Wir haben diese Warnungen leider nie ernstgenommen, wir haben die Probleme verdrängt… und sind so zu einem Teil von ihnen geworden. Auf einmal begreifen wir, wie alles mit allem zusammenhängt, und dass es nicht mehr genügt, an der einen oder anderen Stellschraube zu drehen, um zu einem Gleichgewicht zurückzufinden, das Voraussetzung für eine Zukunft ist.

Wir sind auf eine solche Krise, wie sie wir gerade durchlaufen, denkbar schlecht vorbereitet. Der neoliberale Raubtierkapitalismus der letzten drei Jahrzehnte hat nicht nur die soziale Marktwirtschaft zerstört, sondern ist direkt dafür verantwortlich, dass – etwa – 40% der deutschen Bevölkerung keinerlei Rücklagen besitzen. Das Rentenniveau ist eines der niedrigsten in Europa. Millionen Menschen drohen deshalb wegen der überall steigenden Kosten unter die Armutsgrenze zu rutschen und in einer Realität aufzuwachen, in der selbst die Tafeln sie nicht mehr auffangen können, weil auch dort die Lebensmittel knapp werden.

Jeder weiss, dass die nun hektisch geschnürten, immer neuen Entlastungspakete nur Tropfen auf heisse Steine sind, die den Absturz von Millionen Menschen in die Armut nicht aufhalten werden. Nicht auszudenken, was alles passieren kann, wenn sich die aufgestaute Wut in den nächsten Monaten entlädt, weil die Massnahmen nicht – oder viel zu spät – bei den Menschen in akuter Not ankommen…

Die Fehler und die Versäumnisse, die uns in diese Lage gebracht haben, stammen aus den vergangenen dreissig Jahren. Wie sollen da die jetzigen Regierungen kurzfristig gegensteuern? Sie sind wirklich nicht um ihren Job zu beneiden. Erst einmal (?) verschlechtert sich die Situation weiter. Die Erreichung der Klimaziele von Paris rückt in weite Ferne, weil der Ausbau der erneuerbaren Energien komplett verschlafen wurde und nun dreckige Technologien der Vergangenheit wiederbelebt werden müssen, um Blackouts zu verhindern. Dass in Deutschland noch soviel Strom aus Gas gewonnen wird, ist ein Offenbarungseid. Angesichts der steigenden Strompreise ist nun sogar die eMobilität in Gefahr. Renommierte Firmen wie Hakle und Traditionsunternehmen, darunter viele Bäckereien, können die dramatisch gestiegenen Produktionskosten nicht mehr bezahlen, aber auch nicht an ihre Kunden weitergeben. Ein rasanter Anstieg der Insolvenzen und der Arbeitslosigkeit in den nächsten Monaten erscheint unabwendbar. Alles hängt mit allem zusammen…

Wenn da nur nicht auch noch dieser Zeitdruck wäre, überall schnell Lösungen finden zu müssen… Kein Wunder, dass mir seit einiger Zeit der Titel von Francis Ford Coppolas Antikriegsfilm im Kopf herumschwirrt… Dabei war ich immer überzeugt davon, dass es zu Optimismus keine Alternative gibt. Der inakzeptable Pessimismus begann für mich bereits dort, wo jemand sagte: 'Das muss man realistisch sehen'. Heute brauchen wir Optimismus mehr denn je, auch weil er – im Sinne selbsterfüllender Prophezeiungen – etwas auslösen, etwas bewegen und bewirken kann. Aber jede Form von Optimismus braucht trotz allem auch ein 'Fundament in der Sache', sonst ist er bloss Ausdruck einer nicht ernstzunehmenden Naivität, wie etwa in dem Spruch 'Alles wird gut'… Voltaire hatte sich bereits 1759 in seiner amüsanten Novelle Candide ou l'optimisme über diese Form der Naivität hinlänglich lustiggemacht…

Vieles in diesen Zeiten ist unklar und lässt keine seriösen Prognosen zu. Was heute gerne als 'Kommunikationsproblem' von Politikern interpretiert wird, ist vermutlich oft nur das Ergebnis blanker Ratlosigkeit. Weil zuviele Stellschrauben gleichzeitig justiert werden müssen, weil alles mit allem zusammenhängt, sind auch die Fachleute überfordert. Klar scheint mir nur zu sein, dass wir Lösungen finden müssen, soll die Welt nicht – so oder so – völlig aus den Fugen geraten…

***

Wenn Sie an Zahlen und Fakten interessiert sind, die meine Ausführungen ergänzen und bestätigen, lege ich Ihnen die Publikationen und den Blog von Joachim Jahnke ans Herz, der wie kein Zweiter offizielle Statistiken auswertet und einordnet.