Wenn digitale Medien auf wenig Bildung treffen

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Seit nunmehr vier Jahren beschäftige ich mich in meinem Blog mit Phänomenen unserer heutigen Gesellschaften, die durch die Digitalisierung entweder entstanden sind oder grössere Bekanntheit und Bedeutung erlangt haben. Oft geht es um Problemlagen, für die mit wachsender Dringlichkeit Lösungen gefunden werden müssen, während ihr ganzes Ausmass und ihre volle Tragweite noch kaum überblickt werden. Meine Analysen, bei denen sich erstaunlich viele Kreise zu meinen soziologischen und kulturwissenschaftlichen Studien schliessen, die bis in die 80er Jahre zurückreichen, landen aus ganz verschiedenen Richtungen – und sicher nicht zufällig – immer wieder bei demselben Ergebnis: viele unserer grössten Herausforderungen lassen sich hauptsächlich zwei Ursachen zuordnen, welche ihre negativen Effekte zudem wechselseitig verstärken, wenn sie aufeinandertreffen: ein niedriges Bildungsniveau und digitale Medien.

Da sind etwa die Kinder und Jugendlichen, die freien Zugang zu digitalen Medien haben, obwohl sie noch viel zu jung dafür sind. Ihnen fehlt nicht nur das nötige Wissen, sondern auch die persönliche Reife und die Lebenserfahrung, um sich in der Welt des Internets und der sozialen Medien sinnvoll und sicher zu bewegen. Sie begreifen auch noch nicht – oder viel zu spät, welche schlimmen Konsequenzen ihre virtuellen Aktivitäten in der realen Welt für ihr weiteres Leben – und für das Leben anderer – haben können… und dann leider oft auch haben. Der Eindruck einer vermeintlich 'kinderleichten', intuitiven Bedienung der Geräte täuscht jedenfalls allzu leicht darüber hinweg, dass sie die Voraussetzungen für deren Nutzung bei weitem noch nicht erfüllen. Wenn der Achtjährige nicht mit Papas Smartphone herumhantiert, sondern Mamas Auto in Bewegung setzt, entsteht ein solcher Eindruck wohl kaum…

Dann sind da unsere Bildungssysteme, die längst ihren Auftrag nicht mehr erfüllen, nachfolgende Generationen möglichst gut auf eine aktive Teilhabe an der Gesellschaft vorzubereiten. Immer neue Sparmassnahmen haben ihnen in den letzten Jahrzehnten in grob fahrlässiger Weise die Substanz geraubt. Die Dimension des durch diese mangelde Wertschätzung von Bildung entstandenen Schadens lässt sich allenfalls erahnen… wenn etwa 2019 – laut der aktuellen PISA-Studie – 20 (DE) bzw. 24 (CH) von 100 Jugendlichen im Alter von 15 Jahren nicht fähig waren, die Inhalte von Texten zu erfassen. Die fehlende Lesefähigkeit wirft zwangsläufig ein schlechtes Licht auf ihre Eltern und ihre Lehrer, die an dieser Misere eine Mitverantwortung tragen und deren eigenes Bildungsniveau – jenseits aller vorweisbaren formalen Bildungsabschlüsse – offenbar schon nicht mehr ausreicht, um die Bedeutung der Lesekompetenz richtig einschätzen und gravierende Defizite diesbezüglich erkennen zu können. Die aus diesem Grunde – womit auch immer – verschwendete Zeit könnte aus meiner Sicht nachteiliger nicht sein, wenn ich bedenke, dass ich mit 15 schon mehrere Hundert Bücher gelesen, ja zum Grossteil regelrecht verschlungen hatte… und wie das Lesen meine Neugier auf immer mehr Wissen über die Welt angefacht hatte. Wo sind die nötigen Fördermassnahmen? Der Befund wiegt schwer, auch weil er mit der Illusion aufräumt, dass wir an dieser Situation schnell etwas ändern könnten, wenn wir den Einsichten nur endlich Taten folgen liessen…

Bildung lässt sich in gesellschaftlich relevantem Ausmass nicht nachholen, weil dazu die finanziellen und die personellen Kapazitäten sowie – spätestens nach dem Teenager-Alter – auch die individuellen Voraussetzungen fehlen. Selbst wenn ab sofort massiv in Bildungswesen, Bildung und Erziehung investiert würde, was sich derzeit nirgendwo abzeichnet, könnten erst künftige Generationen von Lehrern, Eltern und Kindern davon profitieren. Eine gute Bildung ist leicht erkennbar an einem breitgefächerten, fundierten Wissen (Allgemeinwissen, Fachwissen, Spezialwissen) und der Fähigkeit, sich selbständig in neue Wissensgebiete einzuarbeiten. Voraussetzung dafür ist eine hochentwickelte Lese-, Schreib- und Lernfähigkeit. Erst Bildung – als Wissenserwerb und als erworbenes Wissen – versetzt in die Lage, komplexere Zusammenhänge zu erkennen und herzustellen sowie logisch und abstrakt zu denken. Nur so kann ein lebenslanger Lernprozess gelingen, ohne den wir früher oder später aus der Arbeitswelt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Kein Wunder also, wenn Universitäten und Lehrbetriebe durch die Bank ein zu niedriges Bildungsniveau bei Studienanfängern und Auszubildenden beklagen, wenn die Aufschreie wegen fehlender Fachkräfte lauter werden und wenn die Angst vor Altersarmut immer mehr Menschen umtreibt.

Und dann sind da die digitalen Medien, die sich längst nicht mehr so regulieren lassen, dass nur noch Menschen mit entsprechendem Alters- und Kompetenznachweis Zugang zum Internet erhalten. Dabei stellt das Internet mit den darauf laufenden sozialen Medien für Menschen aller Altersgruppen, die auf die Nutzung schlecht bis gar nicht vorbereitet sind, schon jetzt eine unbestreitbar hohe Gefährdungslage dar, vergleichbar einem Auto, das genau aus diesem Grunde nur fahren darf, wer ein gesetzlich festgelegtes Mindestalter, den Besuch einer Fahrschule und eine bestandene theoretische und praktische Prüfung nachweisen kann.

Die grösste Gefahr geht bei den digitalen Medien von ihrem exponentiell zunehmenden Missbrauch in allen seinen Erscheinungsformen aus. Solange es das Internet geben wird, können wir diesen Missbrauch nicht mehr verhindern oder auch nur eindämmen. Das leuchtet unmittelbar ein, wenn alleine der Aufwand für die Beseitigung von Lügen, Unsinn, Hass und Hetze aus dem Internet zehnmal so hoch ist wie der Aufwand für deren Veröffentlichung und Verbreitung. Die effektive Löschung solcher Inhalte, sofern überhaupt möglich, nimmt Zeit in Anspruch… Zeit, in der sie erst einmal die volle Wucht ihrer Wirkung entfalten können. Und parallel dazu werden bereits jede Menge neuer schädlicher und schändlicher Nachrichten, Bilder und Videos auf die Reise rund um den Globus geschickt.

Manipulation stellt wohl die häufigste und erfolgreichste Form des Missbrauchs im Internet dar. Dank immer raffinierterer Methoden sind ihr viele, ja vermutlich sogar schon die meisten Menschen schutzlos ausgeliefert. Je naiver der Umgang mit den Inhalten, die in den sozialen Medien kursieren oder unaufgefordert per eMail zugeschickt werden, desto geringer die Chancen, die Fallen rechtzeitig zu erkennen, in die man überall erbarmungslos gelockt wird. So gerät man unversehens in ausweglose Situationen, die leider hin und wieder sogar im Suizid enden…

Die Fremdbestimmung von Meinungen, Kaufverhalten und Wahlentscheidungen, Diebstahl von Daten und Geld, Erpressung, Kindesmissbrauch, sexuelle Ausbeutung, Menschenhandel und Zwang zur Prostitution, Gehirnwäsche, nach der man zum Multiplikator von Lügen und Verschwörungserzählungen oder Hass und Cyber-Mobbing wird… Das sind nur einige Beispiele aus dem Arsenal der Gefahren, vor denen Eltern und Lehrer die Kinder und Jugendlichen praktisch kaum noch schützen, seitdem die Digitalisierung vorangetrieben wird… Die Gefahren werden heruntergespielt oder kommen gar nicht erst in den Blick, weil man sich voll und ganz auf die tollen Vorteile konzentriert, die das Internet natürlich auch zu bieten hat. So meint 'Medienkompetenz' oft sehr naiv vor allem die Fähigkeit, die Vorteile des Internets zu nutzen, weil man einem Narrativ der Internetindustrie aufsitzt, nach dem unbedingt schon Kleinkinder an die digitalen Medien herangeführt werden müssen, um deren berufliche und gesellschaftliche Zukunft nicht zu verbauen.

Nun mag man einwenden, dass Manipulation, Täuschung, Lug und Trug keine Erfindung des Internets seien, dass sich vielmehr seit der Antike unendlich viele Beispiele anführen lassen, von denen die wichtigsten in der sehenswerten sechsteiligen ZDFInfo-Dokureihe Lüge und Wahrheit. Die Macht der Information (2022) vorgestellt werden. Und das Bildungsniveau der Gesamtbevölkerung sei im Schnitt nie höher gewesen als in der Gegenwart. Das trifft zwar zu, doch verkennen solche Einwände den gewaltigen qualitativen und quantitativen Unterschied, den digitale Medien in den Händen wenig gebildeter Menschen machen, unabhängig davon, ob diese dabei zu Opfern oder zu Tätern werden. Der nivellierende, verharmlosende, ahistorische Blick zurück erinnert an Menschen, die aus der Tatsache, dass sie in ihrem bisherigen Leben von Krankheiten verschont geblieben sind, ableiten, dass sich dies auch in der Zukunft nicht ändern wird…

Die Erfolgsgeschichte der Smartphones verdankt sich zu einem Grossteil Menschen mit wenig Bildung und geringen Einkommen, vor allem in Ländern wie Brasilien, in denen sich eine Mehrheit der Bevölkerung nie einen Festnetzanschluss leisten konnte. Mit einem Smartphone waren sie häufig erstmals direkt und ortsunabhängig erreichbar. Und selbst wenn sie nicht lesen und schreiben können, ja wenn sie im besten Fall funktionale Analphabeten sind, lernen sie doch schnell, die Funktionen für die mündliche Kommunikation zu bedienen… vom Telefonieren und Aufzeichnen von Sprachnachrichten oder Videobotschaften bis hin zum Versenden von Emojis, Photos und Selfies. Auch virtuelle Treffen und Kontakte mit anderen Menschen, die sie vielleicht so erst kennenlernen, werden auf diese Weise möglich. Darin besteht zunächst einmal ein Riesenfortschritt für Menschen, in deren Gesellschaften die individuellen Chancen im Leben davon abhängen, wie gut sie schreiben können und die Schriftsprache beherrschen. Mündliche Kommunikation mit Hilfe digitaler Medien ändert an dieser Chancenverteilung wenig, auch wenn die effektiv grösseren Handlungsspielräume einen gegenteiligen Eindruck vermitteln mögen…

Weil auf einmal viele der Menschen, die in einer mündlichen Parallelwelt leben, direkt erreichbar – und damit erstmals mit wenig Aufwand manipulierbar – sind, wachsen die Gefahren für den Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft dramatisch an. Die politische Einflussnahme über die sozialen Medien ist erschreckend, wie man bei den Wahlen in den USA (Trump) und Brasilien (Bolsonaro) oder gerade erst wieder auf den Philippinen sehen konnte, wo der Sohn des 1985 aus dem Land gejagten Diktators zum Präsidenten gewählt wurde. Vorbereitet wurde dieser Coup durch eine Geschichtsfälschung, die ein positives Bild des Marcos-Clans als Wohltäter des Landes zeichnet und die Diktatur verschweigt.

Für die Manipulation von Meinungen über die sozialen Medien stehen heute dubiose Firmen wie Cambridge Analytica bereit, die raffinierte Methoden wie 'Microtargeting' oder 'Micromarketing' einsetzen, bei denen die Empfänger nicht erkennen, dass es sich um gezielte, gross angelegte Kampagnen handelt. Sie denken, sie erhalten Nachrichten von 'Freunden', obwohl sie die Absender gar nicht kennen. Wenn diese Firmen und ihre Auftraggeber damit durchkommen, werden Demokratien unterwandert und zerstört, können Diktatoren sich gegenüber der freien Welt mit einem vermeintlichen Votum des Volkes ins Recht setzen, was flankierende andere Formen des Wahlbetrugs nicht ausschliesst. Auch die Putin-Anhänger werden über die digitalen Medien – inklusive russischer Fernsehsender im In- und Ausland – manipuliert. Sie leben zum Teil in der freien Welt und haben freien Zugang zu anderen Informationen. Trotzdem halten sie an den Lügen aus ihrer Parallelwelt fest, die von der Kreml-Diktatur verbreitet werden.

Hier zeigt sich besonders klar die Auswirkung mangelnder Bildung bei der Nutzung digitaler Medien: aufgrund der Unfähigkeit, die Komplexität eines übergrossen und unübersichtlichen Angebots an unterschiedlichsten und widersprüchlichen Informationen zu verarbeiten, um sich einen Überblick zu verschaffen und ein eigenes Urteil zu bilden, ist man empfänglich und dankbar für einfache Botschaften, die einfache Lösungen in Aussicht stellen. Es verwundert dann nicht, wenn die Vertreter rechtspopulistischer Parteien in Europa einerseits mit dümmlichen Parolen und grober Sprache einfache Botschaften an ihre Sympathisanten aussenden und sich zugleich im Ukraine-Krieg auf die Seite Putins schlagen… womit sie sich automatisch und ohne den geringsten Zweifel als Menschen mit niedrigem Bildungsniveau zu erkennen geben… ebenfalls trotz eventuell vorzeigbarer formaler Bildungsabschlüsse, die nach dem Versagen der Bildungssysteme leider oft nicht mehr aussagekräftig sind (die Plagiatsjäger lassen grüssen).

Rechtsextremisten wie Björn Höcke von der AfD, der offiziell als 'Faschist' bezeichnet werden darf, sind gar keine so seltenen Beispiele dafür, dass man mit wenig Bildung sowohl Opfer als auch Täter sein kann. Nachdem ich in früheren Beiträgen bereits darauf eingegangen bin, was digitale Medien mit uns machen, also unter welchen Bedingungen man wie zum Opfer werden kann, möchte ich mich hier abschliessend noch etwas ausführlicher mit den ungebildeten Tätern befassen. Dazu muss ich ein wenig ausholen…

Die Kommunikation in rein mündlichen Kulturen hatte immer nur einen sehr begrenzten Radius, weil sie auf die gemeinsame räumliche und zeitliche Anwesenheit aller Beteiligten angewiesen war. Das gesprochene Wort verhallte und war für die Nachwelt verloren, es konnte bestenfalls aus der Erinnerung nacherzählt werden. Da die Erinnerung für das Überleben mündlicher Kulturen so wichtig war, kann man von sehr geschulten und leistungsfähigen Gedächtnissen ausgehen. Die Schrift war das erste Verbreitungsmedium, das diesen engen Rahmen der Interaktion sprengte. So konnte man etwa Texte von Menschen lesen, die man nie kennenlernte oder die schon lange nicht mehr lebten. Der Buchdruck (ab ca. 1450) steigerte – im Vergleich zur Handschrift – die Herstellung und Vervielfältigung von Texten – und deren Lektüre – in unvorstellbarem Ausmass. Trotzdem konnten noch bis zu den napoleonischen Alphabetisierungskampagnen des frühen XIX. Jahrhunderts nur wenige Menschen schreiben und lesen. Auch der Zugang zum Druck war einer kleinen Elite vorbehalten, was zugleich das Niveau der Texte, der Autoren und der Leser mitbestimmte.

Durch die Computer (im Zusammenspiel mit Druckern und Internet/eMail) erweiterte sich der Kreis derjenigen, die Zugang zu den – immer noch – schriftgebundenen Verbreitungsmedien erhielten. Parallel entstand die Möglichkeit, Bücher zu bezahlbaren Preisen im Selbstverlag zu veröffentlichen, heute spricht man von Books on Demand. Schon die schnelle schriftliche Kommunikation per eMail förderte zutage, dass viele Menschen die Schriftsprache, speziell die Rechtschreibung und die Gross-Klein-Schreibung, nicht mehr beherrschen. Texte voller Fehler, die Verschriftlichung gesprochener Sprache, viele neue Abkürzungen, Texte in Kleinschreibung, aus Faulheit oder lauter Angst, sich zu blamieren, sind heute normal.

Doch erst die Smartphones öffneten ein Einfallstor zum Verbreitungsmedium Internet für rein mündliche Kommunikation – und damit auch für Menschen mit wenig Bildung, die häufig auch noch in prekären Verhältnissen leben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis diese entdeckten, dass sie sich über dieses Medium weit über ihre Lebenswelt hinaus Gehör verschaffen und ihre ganze Wut gegen die Gesellschaft und einzelne Personen, die nicht selten Repräsentanten dieser Gesellschaft sind, loswerden können. Und sie merken auf einmal, dass ihre Morddrohungen nicht nur zur Kenntnis, sondern sogar ernstgenommen werden, spätestens seit sie in ersten Fällen von Radikalisierung in die Tat umgesetzt wurden. Digitale Medien in den Händen wütender Menschen in prekären Situationen, die dafür die Gesellschaft, einzelne Politiker, Arbeitgeber, Vermieter, Lehrer und andere Menschen verantwortlich machen, besitzen eine enorme Sprengkraft, denn nun ist die massenhafte Verbreitung von Hass und Hetze auch für Menschen ohne Bildung und mit wenig Geld jederzeit möglich. Dass davon immer ungenierter und oft nicht einmal anonym Gebrauch gemacht wird, deutet darauf hin, dass die Zahl derjenigen in unseren Gesellschaften wächst, die – auch nach eigener Einschätzung – nichts mehr zu verlieren haben…

Mit ihrem Zugang zum Verbreitungsmedium Internet und den sozialen Medien werden sie nun für alle deutlich sichtbar. Es reicht also nicht mehr, sie aus Arbeitslosenstatistiken zu streichen und auch ansonsten totzuschweigen. Denn nun steht der soziale Frieden auf dem Spiel. Spätestens seit dem 'Arabischen Frühling' wissen wir um die Solidarisierungseffekte, die sich über die sozialen Medien herstellen lassen. Damit steht die soziale Ungleichheit, die in den letzten drei Jahrzehnten durch die unersättliche Gier einer kleinen Minderheit grösste Ausmasse angenommen hat, nun permanent auf der politischen Agenda. Ohne eine baldige drastische Reduktion der sozialen Ungerechtigkeiten und der Ungleichheit wird es auch für diejenigen ungemütlich werden, die sich in den letzten Jahrzehnten schamlos auf Kosten der unteren Hälfte der Gesellschaft bereichert haben.

Bildung trägt übrigens auch dazu bei, dass Menschen zivilisiert werden. Der Soziologe Norbert Elias hat den 'Prozess der Zivilisation' als Herabsetzung der Peinlichkeitsschwelle und als Heraufsetzung der Gewaltschwelle beschrieben. Ein zivilisierter Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass ihm sehr schnell etwas peinlich wird, weshalb er es dann unterlässt, und dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass er gewalttätig wird. Wichtig dabei war Elias, dass ein Rückfall in die Barbarei jederzeit möglich bleibt, was vermutlich jetzt an der Front im Ukraine-Krieg täglich erlebt wird. Diese Definition von Zivilisiertheit wirft auch ein neues Licht auf die Rechtspopulisten, denen der Unsinn, den sie von sich geben, nicht im geringsten peinlich ist und in deren Dunstkreis viele gewaltbereite Menschen anzutreffen sind. Wer weiss, was sich in dieser Gemengelage noch alles zusammenbrauen wird…

Auch Empathie, also die Fähigkeit, sich in die Situation einer anderen Person hineinzuversetzen und mit dieser Person mitzuempfinden, ist nicht angeboren, sondern ein Ergebnis von Bildung und Erziehung. Folglich sind auch die brutalen verbalen Attacken auf Mitmenschen in den sozialen Medien, die auch immer wieder tödliche Folgen haben, nichts anderes als ein Beleg dafür, was passieren kann und passiert, wenn digitale Medien auf wenig Bildung treffen.

Und weil eine gute Bildung für Individuum und Gesellschaft in so vielen Hinsichten so enorm wichtig ist, müssen sich die verantwortlichen Politiker der letzten drei Jahrzehnte Totalversagen vorwerfen lassen, wenn sie dafür schon nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Unter dem Diktat des Neoliberalismus haben sie lieber im grossen Stil die erpresserische Wirtschaft subventioniert und Zocker-Banken gerettet. Was hätten diese vielen verschleuderten Milliarden alles bewirken können, wäre doch nur die 'Systemrelevanz' von Bildung erkannt worden… Es ist offenbar daran gescheitert, dass diese Erkenntnis selbst bereits ein gewisses Bildungsniveau voraussetzt.

So stellt sich mir am Ende ein weiteres Mal die Frage, ob wir nicht doch auf einen Kippmoment zusteuern, ab dem die Nachteile und die Schäden, welche mit Hilfe der digitalen Medien und des Internets angerichtet werden, ein solches Übergewicht bekommen, dass auch die vielen Vorteile der Digitalisierung eine Aufrechterhaltung des Betriebs nicht mehr rechtfertigen können. Es sieht jedenfalls verdächtig danach aus, dass sich die sogenannte 'freie Welt' durch die Digitalisierung in existentiell immer bedrohlicheren Abhängigkeiten verfängt und tatenlos dabei zusehen muss, wie ihre demokratisch verfassten Gesellschaften mit Hilfe der digitalen Medien langsam zersetzt und zerstört werden.

Was wir – infolge gigantischer Marketing-Kampagnen – als die Zukunft begreifen und anpreisen, ist letzten Endes nichts anderes als das Geschäftsmodell einer Handvoll Weltkonzerne, welche die Menschheit durch eine nie dagewesene Akkumulation von Kapital und Macht immer fester im Griff haben. Selbst China, das als weltgrösste Diktatur früh das Kontroll- und Unterdrückungspotential der digitalen Medien für sich entdeckt hat und mit 600 Millionen Kameras mit Gesichtserkennung bald 1,5 Milliarden Menschen überwachen wird, ist nur ein Trittbrettfahrer der weltgrössten Konzerne, die in ihrer Existenz zudem nicht annähernd so bedroht und gefährdet sind wie Diktatoren und Diktaturen. Wie total ihre Macht inzwischen ist, zeigt sich ganz gut bei Metaverse, einem virtuellen Universum, dessen Aufbau gerade – und im zweiten Anlauf nach Second Life (2003) erfolgreicher – vorangetrieben wird: dort schafft man es tatsächlich, dass Menschen ganz freiwillig sechsstellige Beträge investieren, um ein virtuelles Grundstück zu erwerben… also sozusagen im Nichts…

Dass dieses Geschäftsmodell jede Menge Begleitschäden produziert, spielt keine Rolle, solange der Profit stimmt und die Politiker die Konzerne einfach gewähren lassen. So kursieren mittlerweile viele unterschiedliche und inkompatible 'Wahrheiten' im Internet, die von dort in die gesellschaftliche Wirklichkeit einsickern. Hinter jeder dieser Wahrheiten stehen viele Follower, oft sogar viele Millionen, was aus den Verkündern 'Influencer' macht, also Manipulatoren quasi in den Rang von 'geistigen Führern' erhebt. Was auf den ersten Blick bloss nach einem neuen Geschäftsmodell aussieht, löst langfristig den Wahrheitsbegriff als gesellschaftlichen Totalisierungshorizont auf… Alle koexistierenden und konkurrierenden Wahrheiten erheben gleichermassen Anspruch auf – alleinige – Gültigkeit, und was Millionen mit einem 'Like' abgesegnet haben, kann ja wohl nicht falsch sein. Das führt jetzt schon dazu, dass an die Stelle eines auf Verständigung ausgerichteten Dialogs oftmals ein unerbittlicher Schlagabtausch zwischen den Verfechtern gegensätzlicher Wahrheiten getreten ist. So bemerken wir in vielen Bereichen die Herausbildung ideologisch verhärteter Blöcke (etwa in Gestalt von Corona- oder Klimawandel-Leugnern sowie von 'aufgewachten' Verfechtern einer vermeintlich 'gendergerechten Sprache' und einer sogenannten 'Cancel Culture'), die bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Andersdenkende prallen. Was es mit unseren Gesellschaften macht, wenn wir uns kaum noch darauf verständigen können, was wahr bzw. richtig und was falsch ist, wenn wir künftig gänzlich ohne Gewissheiten zurechtkommen müssen und uns ständig in allen Themenfeldern nur noch als Gegner bekämpfen, anstatt Konsens anzustreben und Kompromisse zu suchen, wird in einem eigenen Beitrag zu vertiefen sein...

Ich kann diesen Beitrag aber nicht beenden, ohne anzusprechen, dass wir seit dem 24. Februar 2022 erleben, wie unfrei und ohnmächtig die 'freie Welt' aufgrund eingegangener Abhängigkeiten bereits ist. Sie hätten niemals die Dimension von Klumpenrisiken annehmen dürfen. So konnte Putin ungehindert die Ukraine überfallen, obwohl sich dieses Vorhaben lange angekündigt hatte. Seitdem tobt ein Krieg, und der Westen finanziert – gegen seinen Willen – auch noch Putins sinnlose Zerstörung und brutale Gräueltaten an der Bevölkerung. Es spricht zumindest vieles dafür, dass dieser Krieg niemals begonnen worden wäre, hätte sich der Westen nicht aus Profitgier in eine existentielle Abhängigkeit von russischem Öl und Gas begeben und damit Putin komplett ausgeliefert. Das ist ein Vorgeschmack auf das, was uns blüht, wenn das Missbrauchspotential der Abhängigkeiten, die aus der Digitalisierung erwachsen, noch stärker als bisher schon gegen die Menschheit, also gegen uns alle eingesetzt wird… weil die Gier nach Macht und Geld vor nichts Halt macht, wenn wir sie nicht in die Schranken weisen, solange das noch möglich ist… Wer hätte gedacht, dass die neoliberale Wirtschaftspolitik mit ihrer auf die Spitze getriebenen Deregulierung nur 30 Jahre brauchen würde, um die Welt an den Rand des Abgrunds zu treiben? Die Märkte werden es niemals richten – ausser zugrunde… Wer könnte daran noch einen Zweifel haben?

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Nachtrag vom 17.05.2023: Gestern wurden die Ergebnisse der aktuellen Iglu-Studie vorgestellt. Danach konnte 2021 in Deutschland jeder vierte Schüler nach vier Jahren Grundschule nicht lesen. 2016 war es noch jeder fünfte. Genauso erschreckend ist die Quote der Schulabgänger ohne Abschluss, die in Deutschland seit 2011 konstant hoch ist. 2021 waren es laut einer Bertelsmannstudie 47’500 (6,2%). Das ist ein Armutszeugnis für das Bildungssystem, das die schwächsten Schüler nach wie vor nicht besonders stark fördert, sondern unvorbereitet in eine Zukunft mit extrem schlechten Aussichten entlässt. Da spielt es auch keine Rolle, dass der Anteil der Schüler ohne Muttersprache Deutsch überproportional hoch ist. Wie soll der Fachkräftemangel verringert werden, wenn das eigene Bildungssystem so versagt? Laut der letzten LEO-Studie gab es in Deutschland 2018 rund 6,2 Millionen – funktionale – Analphabeten. Laut Mikrozensus hatten 2019 in Deutschland 2,86 Millionen Menschen keinen Bildungsabschluss, davon 1,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund.

Nachtrag vom 17.02.2024: Die Digitalisierung schreitet voran. Seit gut einem Jahr machen generative Sprachanwendungen die Runde, die auf Künstlicher Intelligenz (KI) basieren. Sie können Inputs verarbeiten und Outputs generieren, die – mündlich oder schriftlich – in menschlicher Sprache formuliert sind. Das Textkorpus, aus dem KI-Systeme wie ChatGPT ihre Outputs generieren, speist sich aus Texten und sprachlichen Äusserungen, die – überwiegend – von erwachsenen Menschen erstellt und von den Betreibern generativer Sprachanwendungen illegal aus dem Internet angeeignet wurden. Trotzdem sind Schulen (und Universitäten) alarmiert, es könnte bei der Beurteilung schriftlicher Schularbeiten (und Studienarbeiten) schon bald nicht mehr unterscheidbar sein, ob sie von einem Menschen oder einem KI-System erstellt wurden.

Eine Studie hat nun herausgefunden, dass KI-generierte 'Schulaufsätze' in der Sprache von Erwachsenen formuliert sind, erkennbar an ihrer logischen Struktur, an ihrer Komplexität und an ihrem Vokabular. Dieser an sich triviale Befund wäre eigentlich ein idealer Aufhänger, um Schülern  zu verdeutlichen, dass solche Betrugsmanöver relativ leicht aufgedeckt werden können und dass – schlimmer noch – gerade der Einsatz von KI bei den Schularbeiten verhindert, dass sie sich von einem niedrigeren zu einem höheren Sprachniveau weiterentwickeln. Ein Lerneffekt bei der KI-Nutzung im Sinne eines Wissenserwerbs, wie er mit dem Schreiben des 'Aufsatzes' erzielt werden soll, ist weder beabsichtigt, noch findet er tatsächlich statt. Gelernt wird allenfalls etwas anderes: die einfache Handhabung von ChatGPT. Zur Beurteilung, ob die Outputs brauchbar, falsch oder gar unsinnig sind, reichen die Kenntnisse der Schüler dann wohl häufig schon nicht mehr aus.

Die Schlussfolgerungen der Macher der Studie und des Lehrerverbandes zielen aber offenbar in eine völlig andere Richtung: anstelle einer echten Qualifiziereung durch die Schaffung eines Bewusstseins bei Schülern und Lehrern für die unterschätzten Nebenwirkungen der Digitalisierung beim Erlernen der so wichtigen Kulturtechniken 'Lesen', 'Schreiben' und 'Lernen'geht es primär um die Sicherstellung der Möglichkeit einer Bewertung der Schüler (und Studenten) durch die Lehrer, damit Schule (und Universität) auch künftig ihre  Funktion der 'sozialen Selektion' erfüllen können. Wenn es aber mit der Zulassung von ChatGPT in der Schule nicht mehr primär um Qualifizierung (auch im Sinne einer Förderung der Schwächsten) geht, dann dürfte sich zwangsläufig verschärfen, was schon länger für die Digitalisierung der Klassenzimmer gilt: guten Schülern bringt die KI-Nutzung nichts, schlechten Schülern schadet sie massiv. Dann wird – anders ausgedrückt – die Selektion verschärft, was wir uns aber wegen des – künftig noch mehr – grassierenden Fachkräftemangels schon lange nicht mehr leisten können. Es stellt sich die Frage, wer da wohl seine Hausaufgaben nicht gemacht hat.