Paradoxien sind Phänomene, bei denen unsere Logik an ihre Grenzen stösst. So können etwa Handlungen, die mit den besten Absichten begangen werden, so negative Nebenwirkungen entfalten, dass man sie besser unterlassen hätte. Als Klassiker kann man die Anti-Atomkraft-Bewegung der 70er Jahre anführen, deren Ziel es war, die existentielle Bedrohung der Menschheit durch die Atomkraft einer breiten Öffentlichkeit bewusstzumachen. Zumindest das ist ihr auch nachhaltig gelungen, wenngleich ein Umdenken in der Atom-Politik – trotz des Supergaus von Tschernobyl (1986) – erst vor kurzem eingesetzt hat, nach dem Supergau von Fukushima (2011). Leider hatten die Aufklärungskampagnen der Bewegung eine fatale Nebenwirkung, denn immer mehr Menschen entschieden sich in der Folge gegen Kinder. Einigen mag das Katastrophenszenario als willkommener Vorwand gedient haben, doch viele Menschen konnten vor sich selbst tatsächlich nicht mehr verantworten, in diese bedrohte Welt noch Kinder zu setzen. So hat die Bewegung massgeblich zu einer Entwicklung beigetragen, die sie eigentlich abwenden wollte und die Jahre später – etwa – in der Frage '
Sterben die Deutschen aus?'
selbst zum Thema wurde. So richtig beschäftigen die Konsequenzen uns aber erst heute, 50 Jahre danach, weil der '
Demographische Faktor'
nun überall durchschlägt… etwa beim Fachkräftemangel, oder in Gestalt von Wohlstandsverlust und Altersarmut. Das hat die Anti-Atomkraft-Bewegung nicht gewollt, aber auch nicht verhindern können, sondern – im Gegenteil – mit ihren Kampagnen effektiv gefördert… Auch bei digitalen Medien lassen sich solche Paradoxien beobachten, seitdem auch dort Nebenwirkungen gesellschaftlich relevante Ausmasse angenommen haben und plötzlich sichtbar werden.
Die technologischen Errungenschaften, die wir unter dem Begriff '
Digitalisierung'
fassen, haben unser Leben in den letzten 20 Jahren grundlegend – und allem Anschein nach durchweg positiv – verändert. Wir erledigen heute vieles einfacher, schneller, effizienter, orts- und zeitunabhängiger, haben dabei viel grössere Handlungsspielräume und erzielen einen gigantischen Wirkungsgrad. Wir haben direkten Zugang zu einem Universum von Wissen und sind unmittelbar erreichbar. Wenn sich als Motor der Technologiegeschichte die Absicht identifizieren lässt, das Leben der Menschen einfacher und bequemer zu gestalten, dann reiht sich die Digitalisierung, die auch als '
Vierte Industrielle Revolution'
– oder kurz als als '
Industrie 4.0'
– bezeichnet wird, anscheinend nahtlos in den historischen Prozess ein… Und so begegnet man auch immer wieder dem entwarnenden Argument, die Menschheit hätte es noch immer geschafft, sich auf neue Errungenschaften und Gegebenheiten einzustellen, selbst wenn diese anfangs Skepsis und Angst ausgelöst hätten. Es bestehe absolut kein Grund zur Sorge, wenn heute schon Kleinkinder digitale Medien benutzen und Kinder mit 12 Jahren als '
Influencer'
bereits einen eigenen YouTube-Kanal betreiben… So ist halt die Entwicklung… Im Prinzip hat sich überhaupt nichts geändert… Jede Generation hat eben ihre eigenen Herausforderungen, die sie schon irgendwie meistern wird…
Spätestens an diesem Punkt müssen wir einhaken und auf die Nebenwirkungen digitaler Medien zu sprechen kommen. Sie werden sich leider ebenfalls als fatal erweisen und lagen nie und nimmer in der Absicht der Entwickler der schönen neuen digitalen Welt, die ganz andere Ziele verfolgen. Und wo die Nebenwirkungen überhaupt wahrgenommen werden, werden sie einfach als unabänderliche Tatsache hingenommen… Dann ist es halt leider so…
Digitale Medien, so habe ich bereits in meinem Beitrag '
Was digitale Medien mit uns machen'
skizziert, bauen – etwa – unsere Konzentrationsfähigkeit, unsere Gedächtnisleistung, unser Wissen, unsere Schreib- und Lesefähigkeit, unser Sprachvermögen, unsere Urteilskraft und unseren Orientierungssinn entweder dramatisch ab – oder erst gar nicht mehr auf. Ein zu früher intensiver Konsum digitaler Medien führt unweigerlich in die digitale Demenz, wenn kein Ausgleich stattfindet, etwa durch eine aktive Erziehung und Aktivitäten jenseits der digitalen Medien (Musik, Sport, Tanz, Fremdsprachen). Hirnforscher wie Manfred Spitzer warnen eindringlich vor dieser Entwicklung, die nur bis zum Teenager-Alter korrigiert werden kann. Zunächst einmal müssen die Voraussetzungen (!) für das Erlernen (!) der Nutzung digitaler Medien erworben werden, vergleichbar den Voraussetzungen, welche für die Anmeldung in einer Fahrschule erfüllt sein müssen. Zumindest beim Auto haben wohl alle begriffen, dass Kinder mit 4, 12 oder 15 Jahren am Steuer nichts zu suchen haben. Um den erforderlichen Grad persönlicher Reife – und einen entsprechenden Entwicklungsgrad des Gehirns – zu gewährleisten, besteht ein gesetzlich vorgeschriebenes Mindestalter für die Fahrschule, und ohne Führerschein ist das Führen eines Fahrzeugs nicht gestattet. Aber es gibt weder ein gesetzliches Mindestalter für das Erlernen des Umgangs mit digitalen Medien, noch überhaupt irgendwelche Vorbedingungen oder altersmässige Beschränkungen für deren Nutzung. Anders formuliert: es gibt keinen gesetzlichen Schutz vor den schädlichen Nebenwirkungen digitaler Medien für Kinder und Jugendliche!
Dabei kann man wissen, dass die zu frühe Nutzung digitaler Medien nicht nur wertvolle Zeit zum Lernen wegnimmt (und bei Computer- und Videospielen regelrecht vernichtet), sondern – neben anderen Fähigkeiten vor allem – die Lernfähigkeit selbst beeinträchtigt oder gar zerstört. Wer sich nicht mehr konzentrieren und sich nichts mehr merken kann, der weiss auch nichts mehr, der hat Mühe, seine Gedanken in Worte zu fassen, der nimmt kaum noch etwas wahr, dem kann auch Google nicht mehr helfen, weil er nicht in der Lage ist, die vielen Suchergebnisse im Hinblick auf ihre Vollständigkeit, Richtigkeit oder Brauchbarkeit zu beurteilen. Darüber hinaus kann man mit digitalen Medien wieder weitestgehend mündlich kommunizieren, ergänzt vielleicht noch durch den Versand von Photos und Emojis. Wenn dadurch aber die Schreib- und Lesefähigkeit und damit die Sprachbeherrschung selbst verkümmert oder gar nicht mehr aufgebaut wird, dann schwindet mit dem sprachlichen Ausdruck auch das Abstraktionsvermögen, die Fähigkeit, komplexere Zusammenhänge zu verstehen oder herzustellen.
Lernfähigkeit ist aber seit der ersten industriellen Revolution besonders stark gefordert, um die Anpassungen an neue – technologische – Errungenschaften zu meistern. Die gewaltigen Alphabetisierungskampagnen Napoleons im frühen XIX. Jahrhundert lassen erahnen, wie sehr das Schreiben und das Lesen damals zu einer unverzichtbaren Voraussetzung für die Teilnahme an der Gesellschaft geworden waren. Wie soll die Anpassung an Neuerungen aber heute noch gelingen, wenn einerseits die Lernfähigkeit verlorengeht und andererseits die digitalen Medien immer mehr Veränderungen hervorbringen, auf die immer schneller mit Lernprozessen reagiert werden muss, wenn man nicht abgehängt werden will? Die Fähigkeit, sich selbständig in neue Wissensgebiete einzuarbeiten, erlernte man früher erst im Studium, was heute viel zu spät wäre. Die Lernfähigkeit ist also noch viel wichtiger geworden, sie lässt sich ebensowenig wie Wissen durch digitale Geräte kompensieren. Und trotzdem lassen wir es zu, dass der zu frühe, intensive Konsum digitaler Medien diese wichtige Fähigkeit zerstört oder am Aufbau hindert. Auch diese fatale Nebenwirkung macht sich erst bemerkbar, wenn es für eine Umkehr zu spät ist, wenn die entstandenen Schäden nicht mehr zu beheben sind. Darin besteht durchaus eine Parallele zur Anti-Atomkraft-Bewegung…
Wer nichts mehr weiss, weil er sich nichts mehr merken kann, und deshalb schon beim Erkennen einfacher Zusammenhänge überfordert ist, der kann auch nicht richtig/wahr von falsch/fake oder banal von wichtig oder Information von Propaganda unterscheiden. In Kombination mit der unmittelbaren Erreichbarkeit von Massen über Smartphones entsteht daraus eine extrem gefährliche Ausgangslage für Manipulationen, die – etwa – im Vorfeld demokratischer Wahlen sogar den Weg in eine – neue – Diktatur bereiten können. Das kann man gerade in Brasilien beobachten, wo am Sonntag vermutlich Jair Bolsonaro, ein offensichtlich rechtsextremer Hetzer gegen Frauen, Schwarze, Homosexuelle und Arme sowie offener Sympathisant einer Militärdiktatur, zum Präsidenten gewählt werden wird, massgeblich auch aufgrund von Verleumdungskampagnen seiner Anhänger – vor allem – in WhatsApp gegen den politischen Gegner. Je ungebildeter die Wähler, desto eher halten sie selbst abstruse Verleumdungen für die Wirklichkeit. Es ist unfassbar, dass Brasilien gerade eine faschistische Diktatur wählt, die sich als solche schon unverhohlen zu erkennen gibt… gerade so, als würde bei uns die Vergangenheit um 85 Jahre an die Gegenwart herangeschoben. Dabei haben die Brasilianer zwischen 1964 und 1985 brutal unter einer Militärdiktatur gelitten und geblutet. Viele von ihnen sind heute erst Mitte 50, sollten sich also noch erinnern können…
In Brasilien geht es um einen Missbrauch der sozialen/digitalen Medien zur Manipulation von Wahlen durch einen autoritären Kandidaten, der viele Gemeinsamkeiten mit US-Präsident Trump aufweist. Schlimm dabei ist, dass solche Manipulationen offenbar – noch – nicht zu verhindern, ja nicht einmal im nachhinein zweifelsfrei nachzuweisen sind. Schwierig ist auch die Identifizierung von Schuldigen, die nach wie vor relativ sicher vor Verfolgung agieren. Die Manipulationen selbst hingegen könnten erfolgreicher nicht sein, denn die Opfer sind ungebildet oder wenig gebildet, dafür um so empfänglicher für Propaganda und Hetze.
Sind wir in Europa besser aufgestellt? Es gibt sicher graduelle Unterschiede, doch auch bei uns werden die Bildungssysteme seit 20 Jahren kaputtgespart, was die soziale Ungleichheit gefördert und viele Menschen in prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Lebensumstände an oder unter der Armutsgrenze gebracht hat. Die Manipulierbarkeit muss ebenfalls als hoch eingeschätzt werden, auch die Bereitschaft, vermeintlichen Heilsbringern hinterherzulaufen, selbst wenn schon deren Nazi-Parolen und rassistische Hetze inhaltlich falsch und rechtswidrig sind. Weil das Bildungsniveau im Schnitt seit Jahren sinkt, kann auch bei uns Propagande in den sozialen Medien verfangen, zumal der einzelne kaum erkennen kann, dass es sich nicht um die persönliche Ansicht eines Bekannten oder Freundes, sondern um maschinell erzeugte und massenhaft verbreitete Propaganda handelt.
Auch eine weitere Nebenwirkung spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle… Sie tritt bei sogenannten '
Echokammern'
auf. Darunter versteht man Filter in Suchmaschinen, welche die Suchergebnisse anhand von Daten, die der Nutzer durch sein vorheriges Suchverhalten geliefert hat, individuell zuschneiden. Die Idee dahinter ist kommerziell, denn Google verdient an Werbung… und die wiederum ist um so erfolgreicher, je gezielter sie nur bei Nutzern der Suchmaschine eingeblendet wird, die durch frühere Suchen ein entsprechendes Interesse haben erkennen lassen. Am besten funktioniert solche Werbung, wenn die Nutzer nicht einmal ahnen, dass sie in einer Echokammer gefangen sind und mit der Zeit von immer mehr Informationen abgeschnitten werden, weil nicht werbewirksame Suchergebnisse ohne Rückfrage und Einverständnis einfach ausgeblendet werden. Spätestens hier merkt man, dass die Nutzung von Suchmaschinen den Preis einer verkaufsorientierten Verzerrung hat. Und die fatale Nebenwirkung der Echokammern besteht genau darin, dass der individuelle Ausschnitt für das Ganze gehalten wird… und dass dieser Ausschnitt einer Verkaufslogik folgt, die mir nur das präsentiert, was ich bereits kenne und mag. Wenn aber alle Suchergebnisse den Eindruck erwecken, dass es andere Meinungen und Angebote nicht gibt, dann wird auf diese Weise systematisch die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen und Dingen, die ich vielleicht nicht mag oder gar nicht kenne, unterbunden, also letztendlich eine Meinungsbildung, wie sie für Demokratien konstitutiv ist. Damit unterscheidet sich die nicht beabsichtigte, aber in Kauf genommene demokratiefeindliche Nebenwirkung von Echokammern fatalerweise nicht mehr von den absichtlich herbeigeführten Wirkungen von Zensurmassnahmen in totalitären Regimen.
Die Kriterien, die für meine ganz individuelle Echokammer verantwortlich sind, werden natürlich nirgendwo offengelegt. Insofern ist nicht auszuschliessen, dass Echokammern – jetzt schon oder künftig – auch für die Zwecke politischer Manipulation missbraucht werden. Damit wird die Macht von Suchmaschinen erkennbar, nicht nur aufgrund von Geschäftsmodellen, deren Nebenwirkungen unsere demokratischen Gesellschaften aushöhlen und zerstören können. Und wenn eine Diktatur erst einmal errichtet ist, liefern digitale Medien die Mittel, um ein totalitäres System aufzubauen, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Erste verstörende Einblicke gewährt gerade China mit seinem so harmlos klingenden '
Sozialkredit-System'
. So pervers die angestrebte totale Überwachung uns erscheinen mag, so erschreckend ist, wie positiv dieses System bereits von Millionen Chinesen angenommen wird, in dem jeder jeden bespitzelt und bewertet und in dem man Credits erwerben und verlieren kann, je nach dem, ob und wie sehr man sich in der Diktatur anpasst. Ziel ist es, bis 2023 mit 600 Millionen Kameras mit eingebauter Gesichtserkennungssoftware 1,4 Milliarden Einwohner zu überwachen. Wen wundert es da, dass auch der türkische Präsident mit Hilfe einer App ein System etablieren will, das vor allem zur Denunziation seiner Kritiker genutzt werden soll? Bei uns undenkbar? Das habe ich auch im Hinblick auf das gedacht, was Neonazis und Rassisten in Deutschland heute wieder öffentlich grölen dürfen, oft ohne Eingreifen der Polizei und ohne konsequente Strafverfolgung.
Wir müssen also wachsam sein, denn das Internet als Kommunikations- und Verbreitungsmedium weist klare totalitäre Tendenzen und Affinitäten auf. Es ist auf totale Überwachung angelegt, bietet technische Möglichkeiten, um auch noch die letzten Grenzen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit aufzuheben. Es gibt keine Transparenz, und mit der Ahnungslosigkeit der Nutzer werden gute Geschäfte gemacht. Sie liefern ganz naiv die Daten, die sich zu Profilen verdichten und verkaufen lassen. Es geht aber immer auch um Macht. Die digitalen Medien liefern das Werkzeug zur Manipulation, und sei es nur durch Ausnutzung einer Lücke oder einer Nebenwirkung, die gar nicht im Sinne und im Blick der Entwickler war… Die kriminelle Energie ist uns da leider immer einen Schritt voraus. Demokratie ist nicht selbstverständlich… nie war diese Aussage zutreffender als heute, momentan vor allem im Hinblick auf den nächsten Wahlsonntag in Brasilien.
Für mich bleibt es ein sehr irritierender paradoxaler Sachverhalt, dass dieselben digitalen Medien, die uns so viele neue Freiheiten und Möglichkeiten gebracht haben, gleichzeitig so grosse Schäden anrichten (können), wenn sie zu früh und mit geringer Bildung benutzt werden, und dass sie sogar als Instrument zur Unterwanderung und Zerstörung von Demokratien sowie zur Errichtung und Festigung totalitärer Regime missbraucht werden (können)… Werden wir in absehbarer Zeit tatsächlich einen Punkt erreichen, an dem die Nachteile des Internets und der darauf laufenden sozialen und digitalen Medien sosehr überwiegen und sich als so existentiell bedrohlich für unsere freiheitlich-demokratischen Gesellschaften erweisen, dass das Internet tatsächlich wieder abgeschafft werden muss, wie Moritz Bleibtreu kürzlich bereits forderte?
Interessante, weiterführende Überlegungen zum Thema '
Sozialkreditsystem'
finden Sie in einem Artikel von Jan Söffner (Zeppelin-Universität Friedrichshafen).