Das Missverständnis von Kundendienst als Dienst des Kunden

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Heute ging auf meinem Smartphone eine SMS von PostFinance mit folgendem Wortlaut ein: „Sie haben den PostFinance Mobile Schnellservice schon längere Zeit nicht mehr verwendet. Ohne aktive Nutzung werden Sie in vier Wochen automatisch abgemeldet. Sie können das verhindern, indem Sie sich via PostFinance App in den Schnellservice einloggen oder z.B. mit dem Schlüsselwort SALDO an 474 Ihren Saldo abfragen…“. Komisch… Die Abbuchungen und die Zahlungseingänge sowie der jeweilige aktuelle Saldo werden mir doch immer von 474 als SMS auf das Smartphone geschickt, ohne dass ich mich einloggen muss… Wo liegt denn das Problem? Und warum gehe ich nicht einfach zur Tagesordnung über und mache brav, was von mir verlangt wird? Warum halte ich diese SMS für eine Frechheit und Anmassung im Umgang mit Kunden? Warum reagiere ich öffentlich darauf und verursache damit noch mehr Aufwand als PostFinance mit der Drohung in der SMS erzwingen will? Weil es an der Zeit ist, solchem Geschäftsgebaren und dem ihm zugrunde liegenden Denkstil Einhalt zu gebieten. Hier wird 'Kundendienst' neu definiert als 'Dienst des Kunden für den Dienstleister bzw. für den Lieferanten'. Dahinter stecken vermutlich auch bei PostFinance die Programmierer solcher 'Apps', wie Software im allgemeinen und Programme im besonderen nach fast 40 Jahren nun endlich verständlich heissen.

Wie ich in meinem Beitrag Wie man zum Sklaven seiner Software wird bereits aufgezeigt habe, gehen auch die Anbieter von Mietsoftware ganz selbstverständlich davon aus, dass die Anwender ihrer Software ständig etwas für ihre Software und deren Anbieter tun, nicht umgekehrt… Sie sollen immer schön die Miete zahlen, sollen sich anderweitig beschäftigen, wenn etwa Windows 10-Updates den Computer für längere Zeit blockieren… und natürlich sollen sie ihre Anforderungen und Arbeitsweisen nach grösseren Updates immer schön an die aus Anwendersicht ebenso willkürlichen wie überflüssigen Änderungen anpassen. Man hilft ja, wo man kann… oder? Als Fazit kann man festhalten, dass Mietsoftware für die Anwender im Vergleich zu gekaufter Software in fast allen Hinsichten eine Verschlechterung darstellt. Die Qualität wird einem neuen Geschäftsmodell geopfert, dessen einziger Vorteil für die Mieter im – vermeintlichen – Wegfall von Anfangsinvestitionen besteht. Alle anderen Vorteile des Geschäftsmodells kommen nur den Anbietern zugute… und die Nachteile sind – man kommt von selbst nicht darauf… – proportional genau umgekehrt verteilt…

Wo kommen wir denn hin, wenn wir uns darauf einlassen? Wollen wir uns künftig von irgendwelchen Nerds in allen Bereichen des Lebens vorschreiben lassen, was wir wann zu tun haben und was wir vergessen können? Als Kulturwissenschaftler und Soziologe hat mich schon immer entsetzt, wie wenig Hardware- und Software-Hersteller vom Alltag der Menschen kennen, in dem ihre Geräte und ihre Programme zum Einsatz kommen. Offenbar werden in den sogenannten Usability Labs, wo es sie denn wirklich gibt, die Anwender auch nur simuliert… und dann liegt man halt schon einmal Lichtjahre neben der Lebens- und Arbeitswelt tatsächlicher Anwender. Ich fühle mich oft an eine Dokumentation erinnert, die ich in den 80er Jahren an der University of East Anglia gesehen habe, in der sich ein Mann in einer Gesprächsrunde gefühlte 15 Minuten darüber ausliess, wie Prostituierte sind… bis eine der anwesenden Frauen ihn mit einer einfachen Frage abrupt zum Schweigen brachte: Have you ever met one?

Doch zurück zum eigentlichen Anlass dieses Beitrags: der Skandal besteht für mich darin, dass es vielen Dienstleistern (und Lieferanten) heute nicht mehr darum geht, ihren Kunden gute Dienste zu leisten, ihnen das Leben so einfach und angenehm wie möglich zu machen. Im Zuge der Digitalisierung verkehren sich die Verhältnisse verstärkt ins krasse Gegenteil. Dauernd sollen die Kunden etwas für ihre Dienstleister und ihre Lieferanten tun… Sie sollen sich irgendwo einloggen, um digitale Datenspuren zu erzeugen, die man dann wieder zu Profilen verdichten und anderen als Dienstleistung verkaufen kann; nach jedem noch so banalen Kontakt mit einem Dienstleister und jeder noch so unspektakulären Lieferung kommt gleich ein anderer Dienstleister per eMail hinterher, um eine Bewertung einzufordern, die auch nicht länger als 5 oder 10 Minuten dauern würde. In diesen Kontext fällt genauso die neue Praxis, wie sie derzeit vom Konsumentenschutz bei Swisscom und UPC angeprangert wird, Internet-Abonnements einfach abzuändern und den Kunden zuzumuten, tätig zu werden, wenn sie keine höheren Kosten für eine automatisch erhöhte Leistung wünschen – statt eines Opting-in also einfach mal ein Opting-out. Was denken die Erfinder solch grotesker Abläufe eigentlich über uns? Dass wir den ganzen Tag nur darauf warten, für sie tätig werden zu dürfen? Etwa um die ganzen Software-Updates vorzunehmen, die sich in den letzten fünf Jahren verfünffacht haben? Sollen wir Kunden – natürlich ohne Bezahlung – mehr und mehr in ein Programm eingespannt werden, das man als 'Betreutes Dienstleisten und Liefern' bezeichnen könnte? Sind die Lieferanten und die Dienstleister die neuen Könige? Oder halten sie sich in massloser Selbstüberschätzung nur dafür? Dann könnte es allerdings darauf hinauslaufen, dass sie bald als Könige ohne Volk dastehen…

Die Programmierer von 'Apps' und Algorithmen schicken sich an, allmächtig zu werden. Hatte zuvor schon die Wirtschaft – und insbesondere die Finanzwirtschaft – der Politik die Richtlinienkompetenz aus den Händen genommen, nachdem diese sich durch massive Staatsverschuldung abhängig und mit der Androhung, die Produktion ins Ausland zu verlagern und Arbeitsplätze zu vernichten, erpressbar gemacht hatte, so schaffen die Programmierer der schönen neuen Welt 4.0 nun viel mächtigere Abhängigkeiten mit noch grösserem Missbrauchspotential… denn nun betrifft es uns plötzlich alle ganz persönlich. Und der Missbrauch hat offenbar schon begonnen, ohne dass er den Programmierern im einzelnen bewusst sein mag. Denn nur so ist zu erklären, warum Dienstleister im Zuge der Digitalisierung ihre Kunden nicht mehr zuvorkommend 'wie Könige' behandeln und sich nicht mehr in deren Dienst stellen, sondern sich auf einmal herausnehmen, diese nach Belieben herumzukommandieren und Forderungen zu stellen. Ich übertreibe? Ich reagiere zu sensibel? Wenn Sie einmal Ihre Erfahrungen mit Dienstleistern und Lieferanten aus meiner Perspektive betrachten, werden Sie vielleicht ebenfalls Veränderungen feststellen. Vielleicht sind Sie ja UBS-Kunde und wurden auch aus heiterem Himmel damit konfrontiert, dass die Bank Mitte des Jahres einfach mal ihre Software UBS Pay einstellt, mit der ihre Kunden seit dem Jahr 2000 ihre Online Banking-Geschäfte abgewickelt haben. Natürlich gibt es keinen vergleichbaren Ersatz und keine Software, welche die archivierten Zahlungen übernehmen kann. Da haben die UBS-Kunden dann einfach mal wieder Pech gehabt… So wichtig sind sie der Bank dann auch wieder nicht, dass man sie vorher einmal gefragt hätte, ob sie die Software vielleicht gerne weiterverwenden möchten, notfalls auch gegen Bezahlung…

Nur massive Gegenreaktionen können vielleicht noch verhindern, was sich da scheinbar unaufhaltsam anbahnt. Die Politik wird auch diese wachsende – Gefahr durch – Fremdbestimmung im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung unserer Welt viel zu spät erkennen, um dann noch umsteuern zu können… wie sie es gerade überall in Europa bei chinesischen Investitionen versucht. Dabei kaufen die Chinesen schon seit vielen Jahren still und unbemerkt im grossen Stil – Beteiligungen an – Unternehmen in Europa, in Afrika oder in Südamerika…

Ich habe bei PostFinance protestiert und eine Stellungnahme gefordert, ohne allerdings ernsthaft davon auszugehen, dass ich eine Antwort erhalte… Das wäre ja Kundendienst der alten Schule, bei dem der Dienstleister die Kunden und deren Anliegen noch ernstnimmt und sofort reagiert, wenn es Anlass zu Unzufriedenheit gibt… Jedenfalls gibt es nach meiner Einschätzung keinen einzigen plausiblen Grund in der Sache, warum eine App, die eine Zeitlang nicht verwendet wird, bei einem Kunden deaktiviert werden müsste oder sollte. Hier soll der Kunde offenbar zur Nutzung gezwungen werden. Wohl eher nicht zu seinem eigenen Glück, denn das wäre anmassend und respektlos. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass der Kunde zu etwas gezwungen werden soll, von dem der Dienstleister selbst einen Vorteil hat… dass der Kunde auf diesem Weg für etwas missbraucht wird, von dem er gar nichts weiss und dem er wissentlich auch nicht zugestimmt hat… Und das, meine ich, kann man seinem Dienstleister nicht einfach durchgehen lassen, auch wenn man ansonsten ganz zufrieden mit ihm ist…

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Update vom 10.02.2020: Natürlich habe ich von PostFinance nie eine Antwort auf meinen Protest erhalten, was meine Beobachtung bestätigt, dass im Zuge der Digitalisierung die Verhältnisse im Kundendienst auf den Kopf gestellt werden. Das neueste Beispiel dafür, wie nun mit Kunden umgesprungen wird, liefert erneut PostFinance, auf deren Einstiegsseite zum Online-Banking seit heute folgende Warnung eingeblendet wird: „Wir haben festgestellt, dass Sie Windows 7 verwenden. Beachten Sie, dass der Support durch Microsoft und somit die Bereitstellung von Sicherheitsupdates für Windows 7 per 14.01.2020 eingestellt wurde. Aus Sicherheitsgründen empfehlen wir Ihnen ein Update zu einem aktuellen Betriebssystem, wie beispielsweise Windows 10. Zudem kann die Verwendung von älteren Betriebssystemen dazu führen, dass Ihnen nicht mehr der volle Funktionsumfang im E-Finance zur Verfügung steht. PostFinance behält sich vor, bei Sicherheitsproblemen Windows 7 kurzfristig für E-Finance zu deaktivieren“. Der Übergang von der Empfehlung zur Drohung ist hier fliessend… Es wird nicht einmal der Versuch unternommen, den Kunden zu dienen und Windows 7 weiterhin zu unterstützen. Das würde ja einen Aufwand für den Dienstleister bedeuten, bei dem der Vorteil auf seiten der Kunden läge. Statt dessen sichert man sich lieber selbst den Vorteil, indem man den Kunden zum Handeln nötigt. Der Kunde verliert jetzt nur noch: durch einen zusätzlichen, teilweise beträchtlichen Kostenaufwand, wenn er brav befolgt, was ihm der  Dienstleister im Gestus einer Drohung 'empfiehlt', aber natürlich vor allem, wenn er die Anweisungen ignoriert und in der Folge ausgeschlossen wird. Dank der Errungenschaften der Digitalisierung sitzt der Kunde nun immer am kürzeren Hebel und ist damit in eine ebenso inakzeptable wie unerträgliche Abhängigkeit geraten…

Diese Entwicklung verdient unsere ganze Aufmerksamkeit. Deshalb habe ich mich entschlossen, in meinem Blog eine Rubrik 'Rückschritt durch Technik' zu eröffnen. An Fallbeispielen werde ich aufzeigen, wie die Digitalisierung das Leben von Menschen – zum Teil dramatisch – verschlechtert, denen das Blaue vom Himmel versprochen wurde. Sie zahlen in jeder Hinsicht einen zu hohen Preis, vor allem natürlich an die Anbieter der Apps, die ihnen ja eigentlich das Leben erleichtern sollten. Und da die Gewinner und die Verlierer in diesem Prozess von vornherein feststehen, macht sich schon länger ein gewisser Fatalismus breit… So ist es halt, da kann man gar nichts machen… Die Entwicklung ist nicht aufzuhalten…

Das ist sie nach meiner Überzeugung nur dann nicht, wenn man sich ihr freiwillig ausliefert, indem man die Funktionsweise solcher Apps nicht durchschaut… was aber gar nicht so schwierig ist, wie ich in den Fallstudien zeigen werde. Besonders schockierend wird dabei allerdings die Erkenntnis sein, dass die für die Anwender negativen, ja zum Teil fatalen Auswirkungen solcher Apps von deren Entwicklern gar nicht beabsichtigt sein müssen – und vermutlich oft nicht einmal wahrgenommen werden. Sie möchten doch einfach nur Geld verdienen…

Beginnen werde ich mit den Apps der Bhaasha GmbH, welche ihre Aufgabe auf der Website so formuliert: „Wir entwickeln Technologien, um Zugriff auf kompetente Dolmetscher anzubieten, Kommunikation über sprachliche Barrieren hinaus sicherzustellen und so letztendlich jeder Person die Möglichkeit für einen diskriminierungsfreien Zugang zu Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheit, Soziales, Bildung und Justiz zu geben.“ Hört sich doch gut an, wie auch der – zugegebenermassen ziemlich abgegriffene, für Mietsoftware aber völlig übliche – Slogan 'Den richtigen Dolmetscher finden – Wann und wo Sie ihn benötigen'. Vermutlich glauben die Mitarbeiter des Herstellers das sogar, selbst wenn dazu eine gewisse Naivität erforderlich ist. Die Praxis sieht weniger rosig aus… Für die Anwender, jedenfalls für die meisten von ihnen, stellen die Apps selbst eine neue, oft unüberwindliche Barriere dar… und damit einen echten'Rückschritt durch Technik'

Update vom 17.03.2020: Der oben angekündigte Beitrag über Bhaasha ist seit heute online, und hier geht es zur Vorstellung der neuen Rubrik

Veröffentlicht von Armin Biermann vor 5 Jahren, 24.8.2018

Abgelegt in: Allgemein

Eine Antwort zu “Das Missverständnis von Kundendienst als Dienst des Kunden”

  1. 28. August 2018 at 9:56

    Ich denke, das ist weniger durch Programmierer verursacht, als durch das jeweilige Management: Ich habe bisher noch keinen Programmierer erlebt, der gesagt hätte: „Wir brauchen eine App!“

    Manager jedoch mehrfach! Zunächst, weil das als „schick“ galt. Danach erkannte das typische Management einen Sachzwang, weil die Nutzer sich weg vom Desktop hin zum mobilen Gerät bewegten – und somit die bisher für Desktops optimierten Web-Sites nicht mehr die beste Lösung waren.

    Apps kosten jedoch Geld – und die Investition muss gerechtfertigt werden. Am besten durch Einsparungen – allenfalls durch Kundenbindung („Wenn unsere Kunden die App nutzen, ist die Absprungshürde größer!“).

    Welche Einsparungen möglich sind – bereits in der Vor-App-Zeit, haben die Banken vorgemacht: Sie lassen ihre Kunden im Rahmen von Electronic Banking praktisch den gesamten Zahlungsverkehr, den früher Mitarbeiter „am Schalter“ erbracht hatten, selbst erledigen (arbeiten!) und obendrein dafür auch noch bezahlen.

    Das Bemerkenswerte dabei ist: Die Kunden sind auch noch in der Masse glücklich darüber („weil ich nicht mehr zur Bank gehen muss!“). Hierauf baut die erwähnte SMS auf – und droht mit „Entzug“ – und damit einer Störung im Glücksgefühl….

    Kritische Menschen, die darin eine Gängelei, wenn nicht gar eine Zumutung sehen, dürften deutlich in der Minderheit sein – und damit ein „überschaubares Risiko“ darstellen, mit denen heutige Großunternehmen leben – vielleicht sogar gern.

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