Über den Verfall der Gewissheiten und die Folgen

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Als Wolfgang Beltracchi 2010 wegen einer Unachtsamkeit als Kunstfälscher aufflog, war er mit einer ebenso genialen wie kriminellen Methode längst Multimillionär geworden. Er hatte über Jahre nicht einfach perfekte Kopien kostbarer Gemälde angefertigt und in Umlauf gebracht, sondern Künstler wie Max Ernst oder Fernand Leger 'weitergemalt', neue Originale im Stile der Meister hergestellt, die dann als 'unbekannte Werke' zufällig auf irgendeinem Dachboden oder in irgendeinem Nachlass 'entdeckt' wurden. Die richtigen Materialien für die chemische Analyse, falsche Expertisen und der indirekte Verkauf über Auktionshäuser machten das Verbrechen perfekt – und gaben im nachhinein den gesamten Kunstmarkt der Lächerlichkeit preis. Andeutungen zufolge gibt es wohl weltweit noch etliche Museen und Sammler, die nicht einmal ahnen, dass sie einen 'echten Beltracchi' zu einem recht hohen Preis erworben haben.

Während Beltracchi – selbst in der Fälscherszene – ein Ausnahmetalent bleiben wird, werden wir seit einiger Zeit von Programmen ('Apps') in den digitalen Medien mit 'Fälschungen' überflutet. Mal kommen sie als neue 'Wirklichkeiten' daher ('Virtuelle Realität', 'Gemischte Realität', 'Angereicherte Realität'), mal geben sie sich als das zu erkennen, was sie sind: 'Fake'. Schon am Anfang der Entwicklung spektakulär ist die 'Deep Fake Technology', mit der 'echte' Personen in Videoaufnahmen so 'modelliert' werden können, dass sie beliebige Texte sprechen und perfekt die Lippen dazu bewegen. Forscher der University of Washington haben einem 'synthetischen' Barack Obama täuschend echt Worte in den Mund gelegt, die dieser – zumindest öffentlich – nie äussern würde.

Das sind nur zwei Beispiele für ein Phänomen, das sich in der Gegenwart ausbreitet: die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Original und Fälschung, zwischen Freund und Feind werden überall bis zur Unkenntlichkeit verwischt, zum Teil spielerisch, zum Teil mit einer klaren Täuschungsabsicht. Doch was macht das mit uns, wenn es keine Gewissheiten mehr gibt? Wenn alles immer auch ganz anders sein könnte? Wenn die perfekte Täuschung zur Normalität wird in einer Welt, die sich komplett von der Digitalisierung abhängig gemacht hat und in der mit Urteilskraft dank abgewirtschafteter Bildungssysteme immer seltener zu rechnen ist?

Nichts ist mehr das, was es zu sein scheint. Diesen Verdacht erhärten immer neue Betrugsmanöver, wie sie – etwa – der 'Rechercheverbund von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung' oder Whistleblower wie Edward Snowden aufdecken. Wer hätte noch vor wenigen Jahren gedacht, dass die Autoindustrie mehr in die arglistige Täuschung bei Abgastests als in den Bau sauberer Motoren investiert? Oder dass Steuerbetrug hochprofessionell organisiert und im ganz grossen Stil betrieben wird, wie etwa die CDs mit geheimen Bankdaten oder die Panama Papers belegen? Dass Waffen trotz Exportverboten problemlos in Krisengebiete gelangen? Dass Medikamente entwickelt werden, zu denen danach erst die Krankheiten erfunden und als die Menschheit bedrohende Pandemien vermarktet werden, um ganze Staaten in Zugzwang, besser wohl: in Kaufzwang zu bringen?* Dass an Lebensmitteln durch kriminelle Praktiken jedes Jahr Milliarden verdient werden? Dass Geheimdienste selbst befreundete Staaten und die eigenen Bürger maximal ausspionieren? Dass auch die weltgrössten Internet-Konzerne uns ausspähen und inzwischen mehr über uns wissen als wir selbst? Die Liste solcher Machenschaften liesse sich beliebig verlängern, und sie betreffen uns auch ganz persönlich…

Wenn kriminelle Energie auf modernste technologische Errungenschaften trifft, dann laufen wir alle jederzeit Gefahr, in eine dieser Fallen zu tappen und massiv geschädigt zu werden. Täglich erhalten wir eMails, deren Inhalte zu verschleiern versuchen, dass man eigentlich unsere Daten und/oder unser Geld stehlen möchte. Oft wird ein Absender benutzt, den der Adressat des eMails persönlich oder namentlich kennt. Besonders heftig sind die Fälle, in denen Geld mit der Verschlüsselung der Festplatten von Computern erpresst wird. Ganze Stadtverwaltungen wurden so lahmgelegt und haben hohe Beträge gezahlt. Andere wiederum behaupten, über kompromittierendes Material zu verfügen, das heimlich mit der Kamera des eigenen Smartphones oder Computers aufgenommen wurde. Das geforderte Lösegeld soll in einer Internetwährung gezahlt werden, um die Verbreitung des Materials im Internet abzuwenden. Nun schickt sich Facebook an, eine eigene Internetwährung zu lancieren… Betrüger und Erpresser werden danach vermutlich noch leichteres Spiel haben. Dann wären da noch die vielen eMails, in denen uns Millionenbeträge in Aussicht gestellt werden, die wir angeblich gewonnen oder geerbt haben, geschenkt bekommen sollen oder uns mit einer kleinen Gefälligkeit ganz leicht verdienen können. Auch dubiose Kreditangebote treffen fast täglich ein. Für jeden Typ scheint es inzwischen eine passende Betrugsmasche zu geben, nicht nur für die Gutgläubigen und die Ahnungslosen unter uns.

Dann geben uns, wie erwähnt, die digitalen Medien Programme ('Apps') an die Hand, mit denen wir selber die Wirklichkeit manipulieren können… spielerisch für uns selbst, aber der Möglichkeit nach natürlich immer auch, um andere hereinzulegen. So können wir ein digitales Photo von uns so in ein anderes integrieren lassen, dass wir auf der Spanischen Treppe zu sehen sind, selbst wenn wir noch nie in Rom waren. Wegen der 'gemischten' oder 'angereicherten' Wirklichkeiten, die nun ohne Fachwissen herstellbar sind, scheiden Photos und Videos künftig wohl als Beweismittel aus. Sie eignen sich dagegen ideal für den Aufbau gefälschter Identitäten, mit denen dann in den sozialen Medien Kinder und Erwachsene in die Falle gelockt werden. Dass die Ermittlungsbehörden ebenfalls mit falschen Identitäten unterwegs sind, um in den sozialen Medien Betrüger, Menschenhändler und Pädophile zu fassen, verstärkt nurmehr den Eindruck: Nichts ist mehr so, wie es zu sein scheint. Und weil Faktenchecks meistens schwierig und zeitaufwendig sind, lassen sich heute ganz leicht Falschmeldungen verbreiten, aber auch Nachrichten als 'fake news' und Kritiker als 'Lügenpresse' diffamieren und diskreditieren. Der Aufwand, eine Falschmeldung zu dementieren oder wieder aus der Welt zu schaffen, soll zehnmal höher sein als der Aufwand für deren Erstellung und Verbreitung. Und bei Anschuldigungen bleibt immer etwas hängen, ohne dass jemand für den Schaden haftbar gemacht würde bzw. werden kann.

Die Folgen sind Verunsicherung und Ängste, bis hin zur völligen Blockade und Handlungsunfähigkeit. Die Ängste vor einem totalen Kontrollverlust über das eigene Leben treibt immer häufiger Jugendliche, aber auch Erwachsene, in den Selbstmord, die in den sozialen Medien gemobbt oder mit Nacktphotos erpresst werden. In abgestufter Form fühlen wir uns alle nicht mehr geschützt in einer Welt, in der Menschen an der Zerstörung unserer Privatsphäre mitwirken, die und deren Absichten wir gar nicht kennen.

Das ist nicht nur der Nährboden für allerlei Verschwörungstheorien, es erschüttert mittel- und langfristig zwangsläufig das Grundvertrauen in unsere Erkenntnisfähigkeit… wozu auch Ereignisse und Entwicklungen beitragen, die wir niemals für möglich gehalten hätten… VW, der grösste europäische Autohersteller, der 2018 mit 642'000 Mitarbeitern 11 Millionen Autos produziert hat, stand wegen des Abgas-Skandals, genauer gesagt: wegen der Strafen für die Machenschaften einer kleinen Gruppe krimineller Manager und wegen entsprechender Regressforderungen, ganz plötzlich am Abgrund, war ernsthaft in seiner Existenz bedroht, so dramatisch, wie jetzt Bayer Leverkusen, nach dem Kauf des in jeder Hinsicht vergifteten Monsanto-Konzerns durch eine offenbar völlig inkompetente Geschäftsführung. Und wer einmal Notre Dame de Paris besucht und bestiegen hat, hätte ganz sicher ausgeschlossen, dass dieses kolossale Bauwerk jemals ein Opfer der Flammen werden könnte. Doch warum sind wir so geschockt, wenn sich eine felsenfeste Gewissheit auf einmal in Rauch auflöst?

Im Laufe der Evolution haben wir Menschen weitgehend unsere Instinkte verloren, die fortan durch 'Sinnbildung' auf der Basis von 'Wissen' kompensiert werden mussten. Die Wissenssoziologie unterscheidet drei Arten von Wissen: thematisch relevantes Wissen ('da kommt ein Tiger auf mich zu'), interpretationsrelevantes Wissen ('der will mich fressen') und motivationsrelevantes Wissen ('ich muss mich auf den nächsten Baum retten'). Der Wissensvorrat einer Gesellschaft wird von Generation zu Generation weitergegeben und laufend an Veränderungen der sozialen Wirklichkeit angepasst, die auf zahlreiche Ursachen zurückzuführen sind, etwa auf Erfindungen, Entdeckungen oder Naturkatastrophen.

Unser Handeln ist also 'sinnhaftes Handeln', es beruht auf Erfahrungen (Weil-Motiven) und ist auf Ziele ausgerichtet (Um-zu-Motive). Wir handeln routinemässig, bis ein Problem auftaucht, das wir nicht lösen können. Dann ist in arbeitsteiligen Gesellschaften entweder das Wissen des Spezialisten gefragt, oder neue Wissenselemente lösen alte ab, weil diese für die Problemlösung nicht mehr ausreichen.

Um zu überleben, müssen wir uns also auf unser Wissen so verlassen können wie die Tiere auf ihre Instinkte. 'Wissen' wird in der Wissenssoziologie definiert als 'die Gewissheit, dass Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben'. In unserer Alltagswelt halten wir unser Wissen für wahr oder zutreffend, bis uns gegenteilige Erfahrungen zu einem Umdenken zwingen. Wenn unsere Erfahrungen uns nun aber fast täglich lehren, dass sich alle Gewissheiten, auf die wir uns immer abgestützt haben, nach und nach verabschieden und auch keine neuen nachwachsen, dann kann das nicht ohne Folgen für unsere Alltagswelt und für unsere Lebenswelt bleiben. Ohne verlässliche Gewissheiten verlieren wir die Orientierung, wird es schwierig, überhaupt noch Entscheidungen zu treffen und Ziele zu formulieren, die über das Hier und Jetzt hinausgehen.

Das kann man schon länger in der Politik beobachten. Kaum jemand glaubt noch an die Einlösung von Wahlversprechen. Gründe lassen sich immer (er)finden, warum heute nicht mehr gilt, was gestern noch im Brustton der Überzeugung angekündigt wurde. Der Begriff 'Ankündigungsminister' ist nicht zufällig in der Welt. Ursula von der Leyen betet bei jeder Gelegenheit Litaneien herunter, was die Politik jetzt alles sofort tun müsse, ohne den Erkenntnissen je Taten folgen zu lassen. Insofern wäre sie als neue EU-Kommissionspräsidentin eine glatte Fehlbesetzung. Denn leere Versprechungen führen ebenso wie krasse Fehlentscheidungen – etwa eines Andreas Scheuer im aktuellen Maut-Skandal – zu Verschlechterungen für die Bürger, ohne dass das 'Spitzenpersonal' je zur Verantwortung gezogen würde. In unseren demokratischen Gesellschaften ist die Verunsicherung überall spürbar, aber auch die Ratlosigkeit der Politiker, die das Vertrauen der Wähler verspielt haben, ohne zu wissen, wie sie das geschafft haben und – folglich – wie sie Vertrauen wieder zurückgewinnen können. Das generelle Schwinden der Gewissheiten wirkt da wie ein Verstärker.

Auch digitale Medien spielen in dieser – politischen – Orientierungslosigkeit eine gravierende Rolle. Sie werden für kostengünstiges Mikromarketing eingesetzt, mit dem einzelne Wähler und kleine Gruppen individuell angesprochen werden. 'Meinungsmache' und Manipulation laufen dann gerne über die Diffamierung des politischen Gegners, wie bei der letzten Präsidentschaftswahl in Brasilien zu beobachten war. Das Terrain für die Manipulation ist bereits durch einen kommerziellen Mechanismus bereitet, der als 'Echokammer' bezeichnet wird: Die Ergebnisse von Suchmaschinen werden zugeschnitten auf Interessen, die man durch frühere Suchen zu erkennen gegeben hat. Dadurch ist Werbung erfolgreicher, gegenläufige Meinungen bleiben aber aussen vor. Echokammern sind also schädlich für die Demokratie, weil sie eine Meinungsbildung durch Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten zumindest erschweren. Damit habe ich mich in einem anderen Beitrag ausführlicher auseinandergesetzt.

Als eine besondere Form der Werbung seien noch die Bewertungen von Produkten in den sozialen Medien und in den Online-Shops erwähnt. Es wird viel kriminelle Energie darauf verwendet, in diesem Bereich immer raffiniertere Formen der Manipulation und des Betrugs zu finden, etwa über den Weg von registrierten Testern, die ein Produkt tatsächlich kaufen… und dann positiv bewerten, weil ihnen heimlich der Kaufpreis ganz oder teilweise rückerstattet wird. In den Bewertungen erscheinen sie als ganz normale Käufer. Es ist mittlerweile nicht mehr möglich, echte von gekauften Bewertungen zu unterscheiden… und trotzdem beeinflussen sie ständig und überall Kaufentscheidungen… Der Konsumentenschutz kann solche Praktiken anprangern… verhindern kann er sie nicht.

Die Aussichten sind also alles andere als rosig, und ein Weg aus der Sackgasse ist nicht gerade in Sicht. Mit der Arrosion der Gewissheiten verlagert sich der Fokus unserer Aufmerksamkeit und unseres Lebens auf das Hier und Jetzt. Längerfristige Planungen machen ohne entsprechende Planungssicherheit keinen Sinn mehr. Wenn sich morgen alles schon ganz anders darstellen kann als heute, dann beschäftige ich mich doch sinnvoller mit dem Hier und Jetzt. In unser Denken und Handeln ist auf diese Weise eine weithin erkennbare Kurzfristigkeit eingezogen. Es ist kein Ziel mehr, etwas langfristig zu besitzen (Auto, Büro etc.), es genügt der kurzfristige Zugang (car sharing, coworking spaces etc.). Sofortiges, ungezügeltes Konsumieren ist überall an die Stelle eines längerfristigen Verzichts für eine fernere Zukunft getreten, die immer weniger greifbar ist und aus lauter Bedrohungen zu bestehen scheint, die langsam auf uns zurollen. Und natürlich bemerken wir nicht, dass wir die düsteren Zukunftsaussichten selbst verursachen, indem wir ganz egoistisch die Ressourcen der Erde überkonsumieren und zugleich die Investitionen in die Zukunft auf das absolute Minimum reduzieren.

Die Jugend hat – dank Greta Thunberg – schlagartig begriffen, dass es vor allem ihre Zukunft ist, die da konsumiert wird, und dass die Situation sich dramatisch zuspitzt. Statt in der Schule für eine Zukunft zu lernen, die es nicht mehr geben wird, sind sie freitags lieber auf der Strasse, um die Zerstörung eben dieser Zukunft aufzuhalten. Es bleibt zu hoffen, dass durch die Jugend wieder langfristige Perspektiven in unser Denken und Handeln zurückfinden. Und dass sie es schafft, die Generation ihrer Eltern und Grosseltern für ihre Sicht der Dinge zu gewinnen und in die Pflicht zu nehmen. Das neue Motto könnte dann lauten: Soviel Langfristigkeit wie möglich, soviel Kurzfristigkeit wie nötig. Darüber hinaus muss unbedingt der Verfall der Gewissheiten gestoppt und – wo möglich – rückgängiggemacht werden.

Die auf alle Bereiche der Gesellschaft ausgreifende Digitalisierung wirkt sich in dieser Hinsicht kontraproduktiv aus, denn die digitalen Medien liefern die idealen Werkzeuge für Betrug und Täuschung. Es ist wie mit Autos, mit denen man sich selbst und andere auch töten kann. Das Risiko wird in Kauf genommen, solange solche Vorkommnisse die krasse Ausnahme bleiben. Anders als beim Auto müssen wir uns bei der Digitalisierung echte Sorgen machen und jetzt schon Szenarien für den schlimmsten Fall entwickeln, dass die absichtlich herbeigeführten Schäden und die unbeabsichtigten, aber genauso schädlichen Nebenwirkungen der Digitalisierung deren Nutzen übersteigen, ja möglicherweise bei weitem übersteigen.

Zum Schluss möchte ich zwei positive Entwicklungen hervorheben, die ebenfalls Gewissheiten zum Einsturz bringen: eine weitgehend unpolitische, egozentrische Jugend, die mehr mit Selfies und der Gestaltung ihres eigenen Körpers als mit gesellschaftlichen Themen und der Gestaltung der Zukunft beschäftigt war, kommt langsam in der Realität an und wird politisch aktiv. Wer hätte ihr das noch vor zwei Jahren überhaupt zugetraut? Und sie stellt dabei fest, dass sie etwas bewirken kann, wie Greta Thunberg, die in ihrem zarten Alter schon so viel erreicht hat, dass sie sogar – mit guten Chancen – für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde. Ja, es ist eine regelrechte Lust zu verspüren, den Druck auf die Alten immer weiter zu erhöhen, die verantwortlich sind für den schlechten Zustand des Planeten, aber weiterhin nichts dagegen tun, jedenfalls nichts, was – schnell und damit überhaupt – wirksam wäre. Statt dessen werden nur Ziele in der ferneren Zukunft formuliert, Kohleausstieg 2038, CO2-Neutralität 2050. Das klingt wie Hohn in den Ohren der Wissenschaftler, die doch nachgewiesen haben, dass solche Zeiträume gar nicht mehr zur Verfügung stehen.

Die Jugendlichen haben das verstanden, sie werden den künftigen Kurs und den Takt beim Klimaschutz vorgeben und dafür sorgen, dass die CO2-Emissionen viel, viel schneller reduziert werden, trotz vermutlich wesentlich höherer Kosten für eine sozialverträgliche Abfederung dieser Beschleunigung. Das ist dann der Preis dafür, dass man über Klimaschutz immer nur geredet und nichtbindende Abkommen unterzeichnet hat, aus denen man jederzeit wieder aussteigen kann. Sollte das Gasgeben in der Politik gelingen, dann kann davon eine Dynamik und eine Sogwirkung ausgehen, die unsere Gesellschaften grundlegend verändern und die derzeitigen Politiker noch viel älter und ratloser aussehen lassen als jetzt schon. Viele von ihnen merken – und manche wissen schon -, dass sie mit dem Tempo der Entwicklung nicht mithalten können und bereits völlig überfordert sind, nicht nur mit den sozialen Medien. Es wird nicht mehr lange dauern, bis das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt wird, was längst überfällig ist. Und dann werden wir erleben, dass auch das Durchschnittsalter in unseren Parlamenten und Rathäusern rasant sinken wird. Denn eine Gewissheit setzt sich gerade durch: es kann auf gar keinen Fall so weitergehen wie bisher, und schon gar nicht in diesem Schneckentempo… Wir sollten stolz sein auf unsere Jugendlichen und sie nach Kräften unterstützen. Vor allem sollten wir nicht den Fehler begehen, sie zu unterschätzen, wie einige bedauernswert hilflose Politiker, oder sie gar zu verspotten, wie ein satter deutscher Komiker, der gar nichts begriffen hat und sich dabei für unheimlich lustig hält. Unserer Jugend ist alles zuzutrauen, denn die Zukunft gehört ihr… und vielleicht ja bald auch schon die Gegenwart.

*An dieser Stelle ist ausdrücklich nicht die Corona-Pandemie gemeint, die erst ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung dieses Beitrags weltweit bekannt wurde

Nachtrag vom 12.03.2020: Das vielleicht erschütterndste Beispiel für den Verfall der Gewissheiten liefert derzeit das Corona-Virus, das Anfang des Jahres noch niemand kannte und jetzt mehr und mehr die Welt beherrscht. Ganz Italien steht unter Quarantäne, das öffentliche Leben kommt vielerorts zum Erliegen, die Börsen haben binnen weniger Wochen rund ein Viertel ihres Wertes eingebüsst, ganze Branchen stehen am Abgrund. Ein Stillstand der Weltwirtschaft, ein Zusammenbruch des weltweiten Finanzsystems und das Ende der Globalisierung werden nun denkbar, ja sind für einige Experten nicht mehr aufzuhalten… und die Ursache dafür stammt aus einer Stadt in einer chinesischen Provinz, von denen man bis vor kurzem noch nie etwas gehört hatte. Wie es scheint, ist inzwischen nicht nur alles vorstellbar, sondern auch möglich geworden… Es stellt sich immer häufiger die Frage, ob wir die Lage noch unter Kontrolle haben… oder zumindest wieder unter Kontrolle bringen können? Und woher sollen wir bloss den Optimismus nehmen, um noch an eine positive Beantwortung der Frage zu glauben?